Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

104 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

lich. Er und seine Frau haben mir beim Auf­
bau meines Unternehmens sehr geholfen.
SPIEGEL: Ihre Mutter war die zentrale Figur
Ihrer Kindheit. Was war sie für eine Frau?
Sander: Meine Mutter hatte ein gütiges, opti­
mistisches, unängstliches Wesen. Sie glaubte,
dass man durch Weltvertrauen die Dinge posi­
tiv beeinflussen kann. Diese Zuversicht habe
ich von ihr übernommen. Man darf auch nicht
vergessen, wie belastbar die Kriegsgeneration
war, nicht zuletzt die Frauen. Meine Mutter
war eher fröhlich, sanft, nicht zum Rebellieren
geneigt. Trotzdem hat sie den damals schwer­
wiegenden Makel einer schuldigen Scheidung
von meinem Vater auf sich genommen, um
ihr Glück zu sichern. Sie übernahm vor Gericht
die Verantwortung für das Scheitern der Ehe,
damals wurde ja noch offiziell die sogenann­
te Schuldfrage geklärt.
SPIEGEL: Sie haben erst mal eine Ausbildung
als Textilingenieurin absolviert. Später waren
sie berühmt dafür, mit besten Stoffen und mo­
dernen Techniken zu arbeiten. Können Sie
beschreiben, wie sehr Ihre Kreativität ver­
zahnt ist mit Ihrer Begeisterung für Produk­
tionsprozesse?
Sander: Heute spielt die Idee des Neuen und
der Avantgarde nur noch eine untergeordne­
te Rolle. Das hat mit den beschleunigten Pro­
duktionszyklen zu tun, die keine Zeit für län­
gere Entwicklungsphasen lassen, aber auch
mit dem Nachholbedarf der neuen Märkte,
die westliche Mode lange entbehrten. In mei­
ner Kindheit war das Neue ein Volkssport.
Das hat mich geprägt. Man schaute in die Zu­
kunft und wollte die Vergangenheit hinter sich
lassen. Es war ein heute unvorstellbarer Auf­
bruch, und wir waren sehr sensibel für Zei­
chen der Zeit, auch in den Produkten. Hinzu
kam die starke Amerika­Orientierung, die
Woge amerikanischer Waren, die wir lange
entbehrt hatten. In Hamburg wurde diese
Orientierung von der Nähe zu England auf­
gewogen. Das war eine Gegenkraft, die selbst­
bewusst die Tradition hochhielt. Die Neugier
auf die Zukunft hat mich nie verlassen.
SPIEGEL: Als junge Frau sind Sie mit 18 für
zwei Jahre nach Kalifornien gegangen. Das
war zu der Zeit ungewöhnlich.
Sander: Mein Vater hatte mir zu meinem


  1. Geburtstag einen VW­Käfer geschenkt.
    Aber obwohl ich sehr stolz auf meinen Füh­
    rerschein war, habe ich gesagt, das Auto kön­
    ne er wiederhaben, mir war ein Ticket nach
    Kalifornien lieber. Natürlich war das in den
    Sechzigern noch eine große Reise, und meine
    Eltern hatten versucht, mich davon abzubrin­
    gen. Aber ich bin ohne Bedenken in die TWA­
    Maschine gestiegen und habe die Entschei­
    dung keinen Moment bereut. Die kaliforni­
    sche Ungezwungenheit war für mich eine
    Offenbarung. Die Atmosphäre, das Licht und
    die Wärme haben mich begeistert. Das Leben
    fand draußen statt, hatte mehr Sinnlichkeit,
    die Menschen waren neugierig und offen, we­
    niger förmlich und bieder gekleidet als in mei­
    ner Heimat. Ich habe begriffen, dass man auch
    ganz anders leben kann, dass Umgangs­ und


Kleidungsformen etwas Fluides sind, das sich
ändern lässt. Aus Amerika habe ich das
Selbstbewusstsein mitgebracht, dass sich Din­
ge ändern lassen, indem man die Menschen
von etwas Besserem überzeugt.
SPIEGEL: Nach Ihrer Rückkehr haben Sie eini­
ge Jahre als Modejournalistin gearbeitet. Wie
kamen Sie auf die Idee, eine eigene Kollektion
zu entwerfen?
Sander: Ich hatte gar keine eigene Kollek­
tion im Sinn. Meine ersten Designarbeiten
hatten einen pragmatischen Zweck: Ich be­
treute Modeshootings als Redakteurin für
die »Constanze« und die gerade erst auf
den Markt gekommene »Petra« und war
über die mir zur Verfügung gestellten Ent­
würfe nicht froh. Also habe ich mich, was
heute undenkbar wäre, mit den Fabrikanten
in Verbindung gesetzt, um ihnen zu helfen.
Die Farbwerke Hoechst schlugen mir vor,
aus dem Technostoff Trevira eine erste Kol­
lektion zu ent werfen.
SPIEGEL: Wie war das damals in Hamburg­
Pöseldorf?
Sander: In den Sechzigern fuhren die Cabrio­
lets die Milchstraße rauf und runter, und die
Fahrer hielten nach schönen Frauen Aus­
schau, es herrschte eine Art Start­up­Atmo­
sphäre. Pöseldorf war durch den Antiquitä­
tenhändler und Selfmade­Mann Eduard Brin­
kama zur Promeniermeile geworden. Er war
wie ich ein Fan britischer Lebensart und hat
historische Interieurs aus London nach Ham­

burg importiert, zum Beispiel die Pöseldorfer
Bierstuben. Im Milchstraßenbereich hat er
37 Gebäude restauriert und zu Geschäften
und Galerien umgewandelt. Sein erstes Ob­
jekt war eine Wagenremise an der Milchstra­
ße, in der ich dann später selbst gewohnt
habe. Brinkama hat gezielt an ein kulturell
interessantes Publikum vermietet: Gunter
Sachs hatte eine Galerie an der Milchstraße
und hat dort früh Andy Warhol ausgestellt.
Mein erster Laden lag in einem Brinkama­
Haus an der Ecke zur Magdalenenstraße.
SPIEGEL: Der Laden gilt heute als legendär,
aber war die Unternehmung damals nicht
auch waghalsig?
Sander: Ich hatte das Glück, dass ich unheim­
lich viel Unterstützung und Wertschätzung
erfahren durfte, Menschen, die meinen Wer­
degang beobachtet und mir geraten haben.
Ich war nie allein.
SPIEGEL: Hatten Sie anfangs auch Sorge, auf
Ihren Entwürfen sitzen zu bleiben?
Sander: Es gab eher das Problem, dass Kol­
lektionen nicht rechtzeitig geliefert wurden
oder nicht den Prototypen entsprachen. Wir
mussten mit Retouren kämpfen, ich mochte
den Postwagen nicht mehr kommen sehen.
In der Herstellung waren zum Beispiel unse­
re berühmten 2­Zentimeter­Kappnähte nicht
richtig berechnet worden, und die Größen
stimmten nicht mehr. Oft sind die Stoffe, die
ich selber entwickelt hatte, nicht pünktlich
geliefert worden. Ich habe die Produktion

1 | Designerin Sander backstage bei der Men’s Show 1999 2 | Model Kate Moss mit Lackmantel 1996

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