Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 117

Gabriel Bach, 94
Er floh als Junge vor den Deutschen, aber ganz entkam er ihnen nie.
Gabriel Bach wurde 1927 in Halberstadt geboren, er wuchs in Berlin
auf, besuchte die Theodor-Herzl-Schule und entkam den Nazis


  1. Seine Eltern wurden Jeckes in Israel. Er studierte Jura in Eng-
    land und wurde 1961 einer der drei Ankläger im Prozess gegen
    Adolf Eichmann, den Organisator des Holocaust. Bach begegnete in
    der Gestalt des bürokratischen Massenmörders dem Deutschland
    wieder, das ihn und seine Familie vertrieben hatte. Der Prozess war
    ein Weltereignis, er gab zum ersten Mal den Opfern des Holocaust
    eine Stimme, und er veränderte Bachs Leben. Er war später Gene-
    ralstaatsanwalt Israels, aber wenn er irgendwo vorgestellt wurde,
    war er zuallererst der Mann, der Adolf Eichmann zur Strecke ge-
    bracht hatte. Die neuen Deutschen liebten Bach dafür. Er bekam
    Orden und Einladungen und fuhr oft zurück ins Land der Täter und
    spürte, wie er die Sprache vermisst hatte, das Essen und selbst das
    Wetter. Wenn man ihn in Jerusalem besuchte, wo er bis zum Schluss
    mit seiner Frau lebte, servierte er Kaffee und Kuchen, die bestür-
    zendsten Geschichten aus dem Prozess und zeigte ein Trikot seines
    deutschen Lieblingsvereins Schalke 04 mit seinem Namen. Bach
    wurde schwächer in den letzten Jahren, aber seine Erinnerungen an
    den Prozess blieben scharf. Gelegentlich schien es, als halte er sich
    an ihnen fest. Gabriel Bach starb am 18. Februar. AOS


Dan Graham, 79
Er habe eben nicht malen können, deshalb sei er bei der Konzept-
kunst gelandet, scherzte er einmal vor vielen Jahren. Dan Graham,
der 1942 in Illinois als Sohn eines Chemikers und einer Schul-
psychologin zur Welt kam, fand in den Sechzigerjahren als Auto-
didakt seinen Weg in die Kunstszene und wurde später zu einem
renommierten Kunsttheoretiker. Obwohl sich Graham eher als
Architekt verstand und seine Kunst als »leidenschaftlich betriebe-
nes Hobby« bezeichnete, zählt er heute zu den einflussreichsten
zeitgenössischen Künstlern. Graham war Bildhauer, Performance-
und Videokünstler – vielerlei Formate, Materialien und Stilrichtun-
gen machte er sich zu eigen. Spätestens seine transparenten Pavil-
lons, die 1982 erstmalig auf der Documenta 7 zu sehen waren,
machten ihn berühmt. Die Glashäuser konstruierte er als Mediato-
ren zwischen Natur und Architektur. Blickt man durch ihr Inneres,
offenbart sich ein optisches Spiel, das eigene Spiegelbild mischt
sich mit dem Spiegelbild der Landschaft. Dan Graham starb am


  1. Februar in New York. STG


NACHRUFE


Iwan Dsjuba, 90
Von der Ukraine als Teil Euro-
pas schrieb er schon, lange
bevor der Name Putin eine Rol-
le auf der Weltbühne spielte –
und übte Kritik am russischen
Großmachtdenken: Der ukraini-
sche Publizist und Dissident
Iwan Dsjuba widmete sich zeit-
lebens den politischen Fragen.
Den Reformen. Dem Protest.
Zur Welt kam er 1931 in einem
Dorf im Donbass. Er studierte
russische Philologie in Donezk
und wurde Redakteur bei der
ukrainischen Zeitschrift »Witt-
schysna«, auf Deutsch: »Hei-
matland«. Dsjuba, der zu einem
bedeutenden Literaturkritiker
der Ukraine werden sollte, setz-
te sich dafür ein, die Literatur
seiner Heimat weniger vom Ein-
fluss Russlands bestimmen zu
lassen. In den Sechzigerjahren
protestierte er gegen die Verfol-
gung ukrainischer Intellektuel-
ler, war Mitverfasser eines offe-
nen Briefs, der sich gegen die
sowjetischen Machthaber rich-
tete, prangerte den Antisemitis-
mus in der so wjetisch gelenkten
Ukraine an. Sein 1968 veröf-
fentlichtes Buch »Internationa-
lismus oder Russifizierung?«
wurde als »antiso wjetisch« ein-
gestuft und brachte ihn letztlich
für zwei Jahre in ein Gefängnis
des KGB. Nach der Haft arbei-
tete er als Korrekturleser einer

Werkszeitung, bis ihm das
Regime um 1980 herum wieder
erlaubte zu publizieren. 1989
gründete er eine wichtige
Op positionspartei in der sowje-
tischen Ukraine mit, 1992 wurde
er Kulturminister des jungen
Staats. Putins Militärangriff auf
seine Heimat hat er nicht
mehr erlebt. Iwan Dsjuba starb
am 22. Februar in Kiew. SKR

Mark Lanegan, 57
Er war der Sänger einer der ein-
flussreichsten US-Rockbands
der Achtziger- und Neunziger-
jahre, aber bewegungsintensives
Bühnengebaren war ihm fremd.
Bei Auftritten seiner Screaming
Trees hielt sich Mark Lanegan
am Mikroständer fest, das Ge-
sicht verbarg er oft hinter der
rotblonden Mähne – sein rauer
Bariton war Sensation genug.
Während seine Mitmusiker har-
ten psychedelischen Rock spiel-
ten, sang Lanegan über Grenz-
erfahrungen durch Drogen aller
Art. Viele Songs fußten wohl

auf eigenen Erfahrungen. Schon
im Alter von zwölf Jahren soll
er nach eigenen Aussagen mit
dem Trinken angefangen haben,
später kam Heroin dazu, eine
Zeit lang lebte er als Junkie auf
der Straße. Lanegan hatte die
Screaming Trees 1984 mitge-
gründet, die Band gehörte zur
ersten Welle von Künstlern aus
dem Nordwesten der USA,
deren Musik unter dem Schlag-
wort Grunge zum globalen Pop-
phänomen wurde. Spätere
Stars des Genres wie Nirvana
oder Alice in Chains wurden
von Lanegan inspiriert – mit
vielen spielte er zusammen.
Schon an seinem ersten Solo-
album, veröffentlicht 1990, ha-
ben Kurt Cobain und Krist
Novoselic von Nirvana mitge-
wirkt. Zu seinem ersten Entzug
wurde Lanegan von der Cobain-
Witwe Courtney Love überre-
det. Bei einem Rückfall im Jahr
2004 wäre er beinahe ums Le-
ben gekommen, danach arbeite-
te er umso besessener. Bereits
im Frühjahr 2021 war Lanegan
an Covid-19 erkrankt und lag
für längere Zeit im Koma. Über
diese Zeit schrieb er das Buch
»Devil in a Coma«. Mark
Lanegan starb am 22. Februar
in Killarney, Irland. CBU

Jonas Opperskalski / laif

Isabel Schiffler / Jazzarchiv / picture alliance

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