Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
12 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.

SICHERHEIT

»Wir treten in eine Phase rücksichtsloser


Großmachtpolitik ein«


Carlo Masala, 53, von der Bundeswehr-Universität München erklärt den russischen Krieg
gegen die Ukraine und die Folgen für die europäische Ordnung.

SPIEGEL: Herr Masala, die
schlimmsten Befürchtungen
sind wahr geworden – Prä-
sident Putin hat einen An-
griffskrieg gegen die Ukraine
begonnen. Was kann man an
der bisherigen Entwicklung
militärisch ablesen?
Masala: Die russische Armee verhält sich
nach Handbuch, es gibt keinerlei Überra-
schungen. Wir haben derzeit die erste Pha-
se mit massivem bodengestützten Feuer,
Artillerie, ballistischen Raketen, Raketen-
werfern und Luftschlägen. Die Flugabwehr
der Ukrainer scheint ausgeschaltet zu sein.
Ich würde davon ausgehen, dass wir im
nächsten Zug den massiven Einsatz von Luft-
landetruppen sehen werden, die strategisch
wichtige Punkte in der Ukraine besetzen.
Danach werden wohl mechanisierte gepan-
zerte Verbände in die Ukraine einrücken.
SPIEGEL: Kann Putin mit dem bisherigen
Aufgebot die Ukraine einnehmen und hal-
ten? Sind auch russische Soldaten in den
Straßen von Kiew vorstellbar?
Masala: Ich halte es für ausgeschlossen, dass
Putin mit 190 000 Mann die Ukraine kom-
plett besetzen kann. Wahrscheinlich ist es
sein Ziel, die Regierung von Präsident Se-
lenskyj abzusetzen oder zumindest zum
Rücktritt zu bewegen und eine ihm genehme
Regierung einzusetzen. Aber auch eine Ma-
rionettenregierung bräuchte die ukraini-
schen Sicherheitskräfte, Armee und Polizei
auf ihrer Seite. Und die Bevölkerung müss-
te zu einem großen Teil apathisch zusehen.
Das halte ich derzeit für unwahrscheinlich.
Russische Soldaten könnte man in den Stra-
ßen sehen, weil die russische Armee wahr-
scheinlich versuchen wird, strategisch wich-
tige Positionen einzunehmen – und davon
sind einige auch in Kiew. Aber einen Häu-
serkampf halte ich ebenfalls für eher un-
wahrscheinlich. Dafür sind viel zu wenig
Truppen vor Ort.
SPIEGEL: Wie schätzen Sie die Widerstands-
kraft der ukrainischen Armee ein?
Masala: Sie wird nicht zerfallen wie die
afghanische Armee, sie wird Widerstand
leisten. Die Frage ist, ab wann Widerstand
aussichtslos ist, weil das taktische Vorgehen
der russischen Truppen erdrückend ist. Ich
glaube, die ukrainische Armee wird nach
ein paar Wochen aufgeben müssen.
SPIEGEL: Wie kann es angehen, dass Putin
das alles machen kann?

Masala: Er kann, weil er weiß, dass die USA
und die Nato nicht aktiv in diesen Konflikt
eingreifen werden.
SPIEGEL: Gibt es denn nichts, was die Nato
tun kann?
Masala: Sie kann jetzt massiv den Sicher-
heitsbedürfnissen ihrer osteuropäischen und
südosteuropäischen Mitgliedstaaten nach-
kommen und diese Flanken verstärken.
Dazu zählt auch die Präsenz in der Ostsee
und im Schwarzen Meer. Und die Allianz
muss sich überlegen, ob sie ihrerseits nicht
endlich erklärt, dass die Nato-Russland-
Grundakte, die die Russische Föderation
längst aufgekündigt hat, obsolet ist – sprich
die Stationierung permanenter Nato-Ver-
bände in den neuen Mitgliedstaaten zu
planen. Außerdem sollte die Nato, anders
als es Praxis ist, Schweden und Finnland die
Nato-Mitgliedschaft anbieten.
SPIEGEL: Halten Sie es für realistisch, dass
als Nächstes auch die baltischen Staaten in
Gefahr geraten könnten?
Masala: Ich halte Putin für einen sehr ratio-
nalen Akteur und keinen Selbstmordatten-
täter. Er hat genauso wenig Interesse an
einem Konflikt mit der Nato und den USA
wie die mit ihm. Deswegen wird er die bal-
tischen Staaten nicht so unter Druck setzen,
wie er es mit der Ukraine gemacht hat, weil
er weiß, dass dann der Beistandsartikel
greift und die Situation unkalkulierbar wird
für ihn. Im schlimmsten Fall kämen dann

nukleare Langstreckenraketen ins Spiel –
und das ist eine Schwelle, die auch Putin
nicht übertreten wird.
SPIEGEL: Wie kann die westliche Diplomatie
Putin das Heft des Handelns entreißen?
Masala: Überhaupt nicht. Der Westen ba-
sierte seine Politik auf der Annahme, dass
Sanktionen Putin davon abhalten würden,
zu eskalieren. Er hat aber die wirtschaft-
lichen Verluste in seine Pläne eingepreist.
SPIEGEL: Ein Autokrat mit Großmacht-
ambitionen will die bestehende Nachkriegs-
ordnung in Europa verändern – welche
Lehren sollten vor allem die Europäer für
die Zukunft ziehen?
Masala: Ich glaube, dass wir in eine Phase
offener, rücksichtsloser Macht- und Interes-
senpolitik seitens der Großmächte eintreten.
Und dass Europa die Bildung von Gegen-
macht viel stärker in den Blick nehmen muss
als bisher. Vor allem die Europäer geben
sich immer noch der Illusion hin, dass man
sich dem entziehen könnte, wenn man gute
Beziehungen mit allen Seiten pflegt; dass
Handel und Diplomatie bestimmte Akteure
gewissermaßen sozialisieren könnten. Wir
müssen uns wieder mehr einlassen auf das,
was man früher Realpolitik genannt hat.
Mehr Abschreckung also. Mit der Andro-
hung von Militär erreicht man manchmal
mehr als mit dem Einsatz von Militär. Putin
macht es vor.
Interview: Özlem Topçu n

Machthaber Putin: »Ein rationaler Akteur, kein Selbstmordattentäter«

Lennart Preiss / MSC

Bai Xueqi Xinhua / Eyevine / ddp

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