Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 15

RUSSLAND UND NATO

Einsatz auf breiter Front


Vor wenigen Jahren war die Nato noch für »hirntot« erklärt worden.
Plötzlich ist sie so wichtig wie zur Zeit des Kalten Krieges.

Der Begriff schien Jens Stoltenberg so ent-
scheidend, dass er ihn mehr als einmal
verwendete. Die jetzige Situation sei das
»new normal«, sagte der Nato-General-
sekretär beim ersten öffentlichen Auftritt
nach dem russischen Überfall auf die
Ukraine – die neue Normalität.
Die sieht so aus: Die USA verlegen
Kampfhubschrauber, Kampfjets und Fall-
schirmjäger in das Baltikum. Die Briten
stocken ihre Truppen dort um rund
900 Soldaten auf, die Deutschen um 350.
Der Nordatlantikrat beschließt nach
einem Vorschlag des obersten Befehlsha-
bers, US-General Tod Wolters, die Akti-
vierung der »Graduated Response Plans«.
Wolters steht nun die gut 40 000 Soldaten
starke Nato Response Force zur Verfü-
gung, die an die Ostflanke der Allianz ver-
legt werden kann. Die schnelle Eingreif-
truppe soll künftig in sieben Tagen einsatz-
bereit sein, deutlich schneller als bisher.
Die Ukraine grenzt an mehrere östliche
Nato-Staaten. Sollte Russland das Land
erobern, wovon in Brüssel viele ausgehen,
stünden sich erstmals seit dem Zusam-
menbruch der Sowjetunion wieder auf
breiter Front russische Kampfeinheiten
und Nato-Truppen gegenüber.
Der russische Präsident Wladimir Putin
hat in Europa innerhalb weniger Monate

das exakte Gegenteil von dem erreicht,
was er nach eigenen Worten beabsichtigt
hatte. Putin wollte dem Westen einen
Sicher heitsabstand aufzwingen und ihn
anweisen, US-Soldaten aus den Nato-
Staaten im Osten abzuziehen. Stattdessen
ist die Nato im Osten nun gestärkt, nicht
dramatisch, aber immerhin.
Der russische Staatschef hat der Allianz
damit etwas verschafft, wonach sie mehr
als zwei Jahrzehnte gesucht hat: einen Da-
seinszweck. Vielen Europäern wird gerade
bewusst, dass nicht nur die EU das euro-
päische Lebensmodell absichert, sondern
dass dieses Modell angesichts von Putins
brutaler Großmachtpolitik auch militärisch
geschützt werden muss.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
war die Allianz in eine Sinnkrise geraten.
Mal verstrickte sie sich in Missionen, die
völkerrechtlich umstritten, aber erfolg-
reich waren, wie im Kosovo, wo man 1999
ein Massensterben verhinderte. Der Ein-
satz in Afghanistan endete dagegen nach
20 Jahren vor wenigen Monaten mit
einem desaströsen Abzug.
Die Verteidigung gegen einen Angriff
aus Moskau, ursprünglich Kernaufgabe der
Allianz, verlor zumindest im Bewusstsein
ihrer westeuropäischen Mitglieder an
Bedeutung. Das änderte sich mit der russi-
schen Annexion der Krim 2014 nur gradu-
ell. Noch vor zweieinhalb Jahren diagnosti-
zierte der französische Präsident Emmanuel
Macron den »Hirntod« der Nato.

Putin hat dafür gesorgt, dass der Pa-
tient wieder quicklebendig ist. Die Nato
hat in den Überlegungen der politisch
Verantwortlichen eine Bedeutung wieder-
erlangt wie zuletzt im Kalten Krieg.
In mancher Hinsicht ist das Bündnis
noch attraktiver geworden. In Schweden
und Finnland, beide fest im Westen veran-
kert, aber militärisch neutral, wird eine
Mitgliedschaft in der Nato wieder intensiv
diskutiert.
Dabei kommen auf die Allianz Heraus-
forderungen zu, für die sie bislang kaum
gerüstet ist. Kurzfristig brauchen Polen
und die baltischen Staaten konkrete Zusa-
gen für weitere Truppen und eine Ver-
stärkung der Flugabwehr. Die Gefahr einer
Eskalation – ja selbst der Ernstfall, dass
Putin auch Nato-Partner angreift – wird im
Brüsseler Hauptquartier ernst genommen.
Pläne für eine weitere Verstärkung gibt es
bereits. Nun müssen diese umgesetzt wer-
den, auch von der in den vergangenen Jah-
ren dramatisch geschrumpften Bundeswehr.
Mittelfristig muss das Bündnis seine ge-
samte Strategie überdenken. Wie in Zeiten
des Kalten Krieges kommt es für die Allianz
darauf an, eine wirksame Abschreckung
gegenüber Moskau garantieren zu können.
»Ein Angriff auf ein Mitglied ist ein Angriff
auf alle Mitglieder«, betonte Stoltenberg am
Donnerstag. Das klingt entschlossen. Aber
ist die Nato auf die Rückkehr des Kalten
Krieges wirklich vorbereitet?
In Westeuropa wurde nach dem Ende
der Konfrontation zwischen Ost und West
die Zahl der Soldaten drastisch reduziert.
Die Einsicht, dass militärische Stärke für
den Frieden notwendig sein kann, ver-
schwand weitgehend aus dem politischen
Diskurs. Es schien zu unwahrscheinlich,
dass es je noch einmal zu einem Krieg mit-
ten in Europa kommen könne.
Die Attacke auf die Ukraine zeige,
heißt es im Hauptquartier, dass Moskau
alle geltenden Regeln der europäischen
Sicher heit nicht mehr akzeptiere. »Wir
müssen uns ganz neu aufstellen«, sagt ein
Nato-Militär, »nicht nur mit konventionel-
len Truppen, sondern auch mit unserer
nuklearen Abschreckungsdoktrin.«
Ob der Nato die Umstellung gelingen
wird, ist offen. Als Macron seine Bemer-
kungen über den Hirntod des Bündnisses
machte, meinte er damit auch die Haltung
des damaligen US-Präsidenten Donald
Trump, der in den Mitgliedern der Allianz
vor allem Kostgänger zulasten Amerikas
sah. Sein Nachfolger Joe Biden behandelt
sie nun wieder mit dem Respekt, der Ver-
bündeten gebührt.
In zweieinhalb Jahren wird in den USA
wieder der Präsident gewählt. Gut mög-
lich, dass Trump erneut antritt. Ein Sieg
Trumps wäre auch ein Sieg Putins.

Generalsekretär Stoltenberg (M.)*: Für die neuen Herausforderungen kaum gerüstet

* Mit dem US-Präsidenten Joe Biden und dem
belgischen Premierminister Alexander De Croo
beim Nato- Gipfel in Brüssel im Juni 2021. Matthias Gebauer, Ralf Neukirch n

Laurie Dieffembacq / BELGA / dpa

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