18 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.
TITEL UKRAINE-KRIEG
erst 350 zusätzliche Soldaten als
Verstärkung nach Litauen geschickt,
außerdem sechs Panzerhaubitzen,
schweres Gerät.
»Die Litauer haben eine andere
Wahrnehmung der Bedrohung«, sagt
Andrä. »Zu diesem Bedrohungsgefühl
trägt bei, dass sich mittlerweile starke
russische Kräfte in Belarus befinden,
also in direkter Nachbarschaft.«
Er macht eine Pause.
»Be prepared«, sagt er, das sei das
Motto seiner Mission. Sei vorbereitet.
Wenn es um Russland ging, konn
te man von Deutschland zuletzt nicht
sagen, dass es gut vorbereitet gewe
sen wäre – insofern könnte Oberst
leutnant Andrä so etwas wie die Sym
bolfigur einer neuen Zeit sein.
Der russische Angriff auf die Ukrai
ne markiert eine Zäsur, für die Welt,
für Europa, die deutsche Außenpolitik
und speziell die Russlandpolitik. Viele
Jahre lang konnte Wladimir Putin tun,
was er wollte, konnte Grenzen ver
letzen und Gegner ermorden lassen –
hierzulande setzten sich in Regierung
und Parlament stets diejenigen durch,
die noch bei jeder neuen Eskalations
stufe beschwichtigten: Reden sei bes
ser als drohen, Dialog besser als Sank
tionen. Zum Äußersten werde es nicht
kommen, schließlich sei Putin ein ra
tional agierender Mensch.
Sie lagen vollkommen falsch, der
russische Präsident hat sich als Mann
entpuppt, dem es nicht um Verstän
digung geht, sondern um sein Bild in
der Geschichte, um den Traum vom
Großreich, um Kategorien wie Rache
und Vergeltung. Die Bundesrepublik
steht vor den Trümmern ihrer Ost
politik, das gilt politisch, wirtschaft
lich, militärisch.
Politisch ist der Ansatz gescheitert,
Russland an den Verhandlungstisch zu
bringen. Das NormandieFormat, das
Minsker Abkommen, es waren Begrif
fe, die in Deutschland bis zuletzt hoch
gehalten wurden. Putin hat sie mit
einem Handstreich beiseite gewischt
wie ein Gewalttäter das Blatt Papier,
auf das er seinen Besinnungsaufsatz
schreiben sollte. Was folgt daraus, wel
che Ansätze sieht die Bundesregierung,
um noch Schlimmeres zu verhindern?
Wirtschaftlich rächt sich, dass
Deutschland seine Energieversorgung
von Russland abhängig gemacht hat,
speziell vom Gas. Egal wie laut die ost
europäischen Nachbarn warnten – so
wohl Union als auch SPD hielten an
der Gaspipeline Nord Stream 2 fest. Es
musste erst zum Angriff auf die Ukrai
ne kommen, und es brauchte den grü
nen Wirtschaftsminister Robert Ha
beck, um das Projekt zu stoppen. Doch
ist das wirklich das endgültige Aus?
Was bedeutet es für die Deutschen?
Und wie sieht es militärisch aus?
Nachdem Putin die Krim annek
tiert hatte, besann man sich in der
Nato auf das Konzept der Landes
und Bündnisverteidigung zurück.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs
war es in Vergessenheit geraten, statt
dessen hatte sich das Bündnis auf Ein
sätze wie den in Afghanistan konzen
triert. Nach 2014 sollte sich auch die
Bundeswehr wieder ihrer ursprüng
lichen, im Grundgesetz festgelegten
Bestimmung widmen und dafür grö
ßer, schneller, schlagkräftiger werden.
Die Truppe sollte von der Lachnum
mer zu einer Armee werden, die man
ernst nimmt, im besten Fall fürchtet.
Seither ist einiges passiert, aber
längst nicht genug. Es fehlt vor allem
an Geld, Ministerin Lambrecht for
dert nun einen höheren Wehretat.
Noch im Wahlkampf 2017 hat ihr
Parteifreund Martin Schulz gewarnt,
Deutschland dürfe keinesfalls zum
»Militärbullen« im Herzen Europas
werden, das mache nur den Nachbarn
Angst. Auch hier also: Zeitenwende.
Doch wie steht es acht Jahre nach der
Annexion der Krim um die Bundes
wehr? Was kann sie, was muss sie erst
wieder lernen, was braucht sie?
Auf all diese Fragen muss die Bun
desregierung Antworten finden, mög
lichst rasch. Das fängt damit an, die
Fehler der Vergangenheit zu benennen.
Besonders viele Gründe dafür hät
te die SPD. Die Ostpolitik Willy
Brandts gehört zum politischen Gold
schatz der Partei, ein gutes Verhältnis
zu Russland galt den meisten Sozial
demokraten bislang als heilige Ver
pflichtung – doch sie vergaßen dabei
meist, dass Brandt als Berliner Bür
germeister erst den Kalten Krieger
gab und Härte zeigte, bevor er sich
als Außenminister und Kanzler um
Entspannung bemühen konnte. Der
Part mit der Härte war in der SPD
zuletzt aus der Mode geraten.
Stattdessen warnten auch höchst
rangige Genossen wie FrankWalter
Steinmeier gern vor »Säbelrasseln«
gegenüber Moskau, vor zu viel Härte
und Druck. Noch kurz vor dem Ein
marsch in die Ukraine redete Frak
tionschef Rolf Mützenich lieber über
Versäumnisse der USA als über die
russische Aggression. Entsprechend
nachdenklich war die Stimmung, als
am Dienstagabend die SPDBundes
tagsfraktion zur digitalen Diskussion
zusammenkam. Die eigentliche Inva
sion hatte da noch gar nicht begonnen.
Etwa eine Stunde lang tagten die
Sozialdemokraten, ein gutes Dutzend
Abgeordneter meldete sich, der Tenor
vieler Beiträge: Wir wurden von Pu
tin getäuscht. Man müsse sich selbst
kritisch fragen, wo man in der Ver
gangenheit falsch abgebogen sei,
mahnte dem Vernehmen nach der
Abgeordnete Jens Zimmermann.
»Wir waren zu optimistisch, so
selbstkritisch sollten wir sein«, so sagt
es nach der Sitzung der Abgeordnete
Axel Schäfer. »Wir handelten Moskau
gegenüber immer mit friedlich ausge
streckter Hand – jetzt antwortet Putin
mit geballter bewaffneter Faust.«
Eigentlich habe man nach der Anne
xion der Krim 2014 richtig agiert – aber
»Wir waren zu
optimistisch,
so selbstkri-
tisch sollten
wir sein.«
Axel Schäfer,
SPD-Abgeordneter
Außenministerin
Baerbock bei
Ankunft im
Krisenreaktions-
zentrum: Vor den
Trümmern der
deutschen Ostpolitik
HC Plambeck
2022-09SPAllTitel614512209_AufmacherAbschreckungUkraineD14-50-017018 182022-09SPAllTitel614512209_AufmacherAbschreckungUkraineD14-50-017018 18 25.02.2022 02:12:3425.02.2022 02:12: