Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 35

*  Markus Feldenkirchen und Martin Knobbe in Karl
Lauterbachs Ministerbüro. Lauterbach, SPIEGEL-Redakteure*

fristige Überleben des Rotmilans, wenn
Mensch und Tier insgesamt gefährdet sind?
Da müssen wir beweglicher werden.
SPIEGEL: Dann muss der Rotmilan den Mär­
tyrertod sterben?
Lauterbach: Der Rotmilan sollte geschützt
werden, aber nicht zulasten der Energiewen­
de, die wir dringend benötigen. Falsch ver­
standener Tierschutz hilft niemandem weiter.
Erneut ist hier Wissenschaft die Lösung. Sie
wird uns Möglichkeiten zeigen, wie wir Vögel
auch außerhalb ihres bisherigen Habitats
schützen können, weil wir dort zum Beispiel
dringend Windkraftanlagen bauen müssen.
SPIEGEL: Viele Politikerinnen und Politiker,
schreiben Sie, hätten »zunächst nur die Situ­
ation in ihrem Wahlkreis und die erhoffte
Wieder wahl für die nächste Legislaturperiode
im Blick«. Unpopuläre Maßnahmen werden
gemieden, weil sie die Wiederwahl gefähr­
den. Was wollen Sie gegen diesen Mechanis­
mus tun?
Lauterbach: Zunächst ist es vollkommen
legitim, dass jemand an seiner Wiederwahl
interessiert ist. Aber wir müssen uns schon
Gedanken machen, wie wir die politischen
und demokratischen Prozesse so steuern, dass
wir dieses zentrale Ziel adressieren: das Über­
leben. Wenn ein einzelner Abgeordneter, der
wiedergewählt werden will, sich nicht für Kli­
mapolitik interessiert, mag das verschmerz­
bar sein – solange es genug andere Prozesse
gibt, die sicherstellen, dass Wissenschaft die
Politik bestimmt.
SPIEGEL: Im Bundestagswahlkampf forderten
die Grünen offen und ehrlich einen höheren
Benzinpreis. Zwei Kanzlerkandidaten haben
das sofort genutzt und diese Forderung
skandalisiert: Armin Laschet und Olaf Scholz.
War Ihnen der heutige Bundeskanzler zu
populistisch?
Lauterbach: Ich kann mich nur an die Kritik
von Armin Laschet erinnern. Aber ich finde
ein solches Verhalten im Wahlkampf ganz
grundsätzlich problematisch. Wenn wir einen
höheren Benzinpreis akzeptieren müssen,
damit die Energiewende gelingt, dann muss
man dazu stehen. Und ich bin der Erste, der
das tut.
SPIEGEL: Sie schreiben teilweise bewundernd
über China, das sich »für einen radikalen Um­
bau der gesamten Industrie entschieden«
habe. Wäre die Chance, den Klimawandel zu
stoppen, größer, wenn die ganze Welt von
der Kommunistischen Partei Chinas regiert
würde?
Lauterbach: Ich glaube, dass wir von der
Kommunistischen Partei Chinas nichts lernen
können. Und ich wünsche nicht diese Form,
regiert zu werden. Wir können es auch schaf­
fen, ohne dass wir uns an China orientieren


  • mit klugen, wissenschaftlich gut vorbereite­
    ten Mechanismen.
    SPIEGEL: Die Grünen sind heute noch trau­
    matisiert, weil sie 2013 einen »Veggie Day«


gefordert haben und dafür massiv angegriffen
wurden. Wie fanden Sie die Idee?
Lauterbach: Ich fand die Idee gut. Ich bin ja
selbst Vegetarier, vor allem aus Energie­
gründen. Ich habe 1988 meinen letzten Bur­
ger gegessen, im Big A von Arizona, das war
ein berühmt­berüchtigter Burger­Brater, wo
viele Trucker Halt machten. Ich bin damals
extra dorthin gefahren. Aber zurück zum
Veggie Day: Eine Initiative, dass man zur ve­
getarischen, zur veganen Ernährung aufruft,
dass man Anreize setzt, finde ich richtig. Ich
weiß, dass das sehr umstritten ist, aber zu
einer gelungenen Politik gehört auch Mut.
SPIEGEL: Sagen Sie mutig: Deutschland sollte
fleischlos werden, um die Klimaziele zu er­
reichen?
Lauterbach: Ich würde nicht fleischlos sagen.
Aber wir brauchen eine Ernährung, die sehr
viel stärker vegan und vegetarisch ausgerich­
tet ist, weil wir sonst allein durch die Art, wie
wir uns ernähren, viel zu viel CO 2 und Me­
than freisetzen. Darüber hinaus ist der
Fleischkonsum, den wir derzeit haben, un­
gesund. Er führt zu Herz­Kreislauf­Erkran­
kungen, zu Krebs und ist auch noch mit
Tierquälerei verbunden. Ich will es so sagen:
Welchen Sinn macht Tierquälerei, damit wir
uns ungesund ernähren und dabei auch noch
das Klima ruinieren?
SPIEGEL: Sie wollen Fleischersatz subventio­
nieren und Billigfleisch teurer machen, etwa
durch eine Treibhausgasabgabe. Fleisch wird
so zum Luxusgut für die, die es sich leisten
können. Für die anderen sind dann die Ersatz­
produkte?
Lauterbach: Machen wir uns doch nichts vor.
Wer sind diejenigen, die jetzt am Billigfleisch
durch schwerste Krankheiten Lebensjahre ver­
lieren? Es sind die Ärmeren. Die soziale Frage
stellt sich doch eher umgekehrt. Mit dem Bil­
ligfleisch ernähren sich bislang die Einkom­
mensschwachen in einer Art und Weise, mit
der sie viele Lebensjahre verlieren. Regelmä­
ßiger Fleischkonsum ist zum Beispiel ein wich­
tiger Risikofaktor für Darmkrebs. Und vor
allem bei sozial Schwächeren wird der Darm­
krebs meist zu spät entdeckt. Die Ärmeren
verlieren doch nicht, wenn sie das billige
Fleisch durch eine vegane oder vegetarische
Kost ersetzen. Im Gegenteil: Sie gewinnen.
SPIEGEL: Was ein wenig bevormundend klingt.
Lauterbach: Es ist die Wahrheit, und es
braucht Entschlossenheit, sie auszusprechen.

Da müssen Politik und Wissenschaft Schulter
an Schulter stehen und sagen: Wir haben das
jetzt aus guten Gründen so beschlossen.
Fleisch soll nicht verboten werden. Aber wir
essen viel zu viel davon. Das muss sich än­
dern.
SPIEGEL: Um wie viel Prozent müsste der heu­
tige Fleischkonsum reduziert werden, um das
Klima effektiv zu schützen?
Lauterbach: Klar ist: Wir werden deutlich we­
niger Fleisch essen müssen. Langfristig könn­
ten wir den Fleischkonsum um 80 Prozent
reduzieren. Aber nicht nur in Deutschland,
sondern weltweit, weil es einfach sehr schwer
ist, Fleisch ohne massiven CO 2 ­Abfall zu pro­
duzieren.
SPIEGEL: Sie wollen den Anteil von Wissen­
schaftlerinnen und Wissenschaftlern in der
Politik erhöhen. Wie soll das gelingen?
Lauterbach: Ich hoffe, dass sie selbst erkennen,
dass sie in der Politik oft viel mehr erreichen
können als an der Universität. Zugleich muss
die Politik mehr Raum für sie schaffen. Par­
teien sollten Wissenschaftlerinnen und Wis­
senschaftler aktiv für ihre Parlamente rekru­
tieren, sie auch bei der Vergabe von Listen­
plätzen besonders berücksichtigen.
SPIEGEL: Wir hatten jetzt über sehr lange Zeit
eine Wissenschaftlerin als Kanzlerin. Das hat
dem Klima nicht sonderlich geholfen.
Lauterbach: Ja, das ist richtig. Ich fürchte,
sie war als Wissenschaftlerin nicht bereit,
politisch so viel Kapital einzubringen, wie
notwendig gewesen wäre, um bei der Be­
kämpfung des Klimawandels alles zu errei­
chen. Außerdem zeigt ihr Beispiel, dass
Einzelne wenig ausrichten können, nicht mal
als Kanzlerin. Deshalb braucht es ja auch
mehr Wissenschaftler in der Politik, gerade
jetzt. Die nächsten zehn Jahre sind entschei­
dend für die Frage, ob unser Planet bewohn­
bar bleibt.
SPIEGEL: Träumen Sie gerade von einer Ex­
pertokratie?
Lauterbach: Ich würde es anders nennen,
aber: Ja, wir brauchen eine viel klarere Ver­
ankerung der wissenschaftlichen Erkenntnis­
se in den politischen Prozess. Und da muss
man alles nutzen, was geht. Mehr Wissen­
schaftler in den Parlamenten. Beratungsgre­
mien müssen näher an die Ministerien rücken
und diese dauerhaft und verbindlich beraten.
In der Wissenschaft müssen Freiräume ge­
schaffen werden, damit Forscher in sie wech­
seln und auch wieder zurückkehren können.
Die Uni Köln zum Beispiel hält mir schon
seit 16 Jahren die Stelle als Institutsleiter frei.
Ich könnte zu jedem Zeitpunkt zurückkeh­
ren. Aber solche Flexibilität ist leider nicht
die Regel.
SPIEGEL: Wäre die Rückkehr in die Wissen­
schaft eine Option für Sie, sollten Sie eines
Tages nicht mehr Gesundheitsminister sein?
Lauterbach: Da habe ich noch keine Sekunde
drüber nachgedacht. Ich mache das, was ich
jetzt mache, jedenfalls sehr gern.
SPIEGEL: Herr Lauterbach, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch. n

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

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