Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
REPORTER

Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 55

Z


wei Tage bevor der Krieg be-
gann, fuhr ich nach Branden-
burg, um mir den Wald anzu-
sehen, durch den gerade die Stürme
»Ylenia« und »Zeynep« gefegt waren.
Ich schreibe das zusammen in einen
Satz, weil mir alles, was ich gerade so
tue, unangemessen erscheint, belang-
los, verglichen mit dem Irrsinn im
Osten. Für mich klangen die Sturm-
namen »Ylenia« und »Zeynep« wie
Charaktere aus »Doktor Schiwago«.
Die grausame Ylenia.
Das lag natürlich an Wladimir Pu-
tin, am Klima, aber auch an mir.
Vor einigen Jahren hatte ich eine
Lesung am Deutschen Theater, die
ich absagen wollte, weil genau zur
selben Zeit die Amerikaner anfingen,
Afghanistan zu bombardieren. Es war
20 Uhr, im Theater saßen mehr als
600 Leute. Ich hatte den Eindruck,
dass es jetzt auf mich ankam. Ich soll-
te von den Jazz Optimisten begleitet
werden, einer Dixieland-Band aus
Berlin. Die Musiker warteten in der
Garderobe, und als ich dort auftauch-
te, hysterisch wie Axl Rose, und an-
kündigte, dass man in so einer Situa-
tion keine Kolumnen vorlesen könne,
fragten sie nur: »Wat?«
Ich legte ihnen die weltpolitische
Lage dar, sie erklärten: »Jetzt sind
wa doch aber schon ma hier.« Wir
spielten dann dreieinhalb Stunden,
während am Hindukusch unsere Frei-
heit verteidigt wurde. So war das,
damals.
Zwischen den beiden Orkanen
hatte ich mit Thomas telefoniert,
einem Baumexperten aus dem Dorf.
Thomas stammt von der Ostseeküste.
Weil er dort keine Arbeit mehr fand,
reiste er um die Welt und landete
schließlich in Südbrandenburg, um
den Wald zu pflegen. Bei unseren
Nachbarn seien ein paar Tannen um-
gefallen, hatte er gesagt, sowie eine
Kiefernspitze abgebrochen.
»Bei euch is so weit allet okay«,
hatte Thomas am Telefon gesagt. »Bis
auf eine Kiefer am Zaun, die hat ’n
Schlag bekommen. Aber wenn se
fällt, fällt se in ’n Wald.«

Ich sah die Kiefer schon von Wei-
tem. Ich stieg aus dem Auto, lief um
den Baum herum, dann fuhr ich das
Auto zwei Meter weiter, aus dem
Schatten der gebeugten Kiefer heraus.
Das Autoradio sprang wieder an,
Berliner Journalisten redeten in einer
Talkrunde über Russland und die See-
le von Putin. Auf dem großen, globa-
len Schlachtengemälde, auf dem sich
im Osten Truppen ballten wie Wol-
ken in einem Sturmtief, hätte man
jetzt ganz am Rand einen besorgten
Berliner Kleinbürger sehen können,
der einen Mercedes Kombi zwei Me-
ter weit bewegte, in Sicherheit. Wla-
dimir Putin hätte das nicht gewun-
dert. Die Expertenrunde beruhigte
mich ein wenig, jemand empfahl ein
Putin-Porträt auf Arte. Die Rückkehr
des russischen Bären.
Dann ging ich in den Wald. Über-
all lagen zersplitterte und entwurzel-
te Bäume, vor unserem kleinen See
hing eine Kiefer wie ein Schlagbaum.
Der Wald wirkte zerzaust, vom Sturm
und der Dürre, wirklich wie nach
einem Krieg. Das bildete ich mir na-
türlich alles nur ein, wahrscheinlich
jedenfalls. Vor anderthalb Jahren ha-
ben unsere Nachbarn bei einem Spa-
ziergang in den Sümpfen, die in den
vergangenen Jahren immer mehr aus-
trockneten, eine Leiche gefunden.

Vielleicht ein Soldat. Es ist alles noch
nicht so lange her und deswegen um-
so ärgerlicher, dass der Westen es ver-
gessen hat und Putin offenbar auch.
Im »Kiefernlied« singt André
Herzberg:
»Ich bin eine Kiefer im märkischen
Land
Ich hab Durst auf Wasser im tro-
ckenen Sand
Nach ’m großen Krieg, da wurd ich
gepflanzt
Die Wurzeln sind flach, Stamm
und Krone verkrampft.«
Ich rief noch mal Thomas an, den
Baummann. »Die Kiefer machen wir
im Sommer«, sagte er.
»Ja«, sagte ich, obwohl ich mir im
Moment nicht vorstellen konnte, dass
es wieder Sommer wird. Ich sah in
den Himmel, wo die Kiefernspitze
zwischen zwei benachbarten Car-
ports pendelte. In drei Stunden be-
gann ein neuer Sturm. »Antonia«. Es
ging wieder bei A los, immer wieder
von vorn. Sudetenland, Kubakrise
und Donbass, Kennedy, Castro und
Chruschtschow, Chamberlain, Ma-
cron und Olaf Scholz. Abends sah ich
den russischen Bären auf Arte, wäh-
rend »Antonia« ums Haus wehte.
An dem Tag, als Putin den Krieg
ankündigte, war ich in Leipzig, um
im MDR-Fernsehen ein wenig über
mein neues Buch zu reden. Vor mir
gab es einen Beitrag über thüringische
Draisinen, dann führte mich die Auf-
nahmeleiterin durch das Studio ins
Scheinwerferlicht. Ich saß an einem
Tischchen auf dem ein Schälchen mit
Lindt-Konfekt stand. Die erste Frage
galt dem Krieg im Osten.
»Ist überhaupt noch etwas zu ma-
chen?«, fragte der Moderator.
Ich verstand das Interesse, ich hat-
te es ja selbst. Aber ich hatte keine
Ahnung. Ich saß wie Scholz an einem
langen, weißen Tisch, ganz am Ende,
im Kinderstuhl.
»Ich hoffe, dass Frieden bleibt«,
sagte ich.
Sie hätten auch Nicole einladen
können oder den Dalai Lama.
Als ich im Zug zurück nach Berlin
fuhr, hielt Putin in Moskau seine
Kriegsrede. »Bibi« wurde angekün-
digt, ein neuer Sturm. Der Name
könnte einer russischen Maskirowka
entstammen, von der ich gerade zum
ersten Mal gehört hatte. Ein russi-
sches Ablenkungsmanöver. Wenn
man in einem Wort sagen wollte, wie
ich mich fühlte, Maskirowka wäre es.
Ein Tanz in der Dunkelheit. In einer
Durchsage im ICE erfuhr ich, dass die
Verbindungen nach Hannover unter-
brochen seien. Es klang, als wäre Nie-
dersachsen gefallen. n

Zwischen zwei Orkanen


LEITKULTUR Alexander Osang über »Ylenia« und »Zeynep«, eine fallende Kiefer
und das seltsame Zivilleben in Kriegszeiten

Ich saß wie
Olaf Scholz am
Ende eines
langen, weißen
Tisches, im
Kinderstuhl.

Abgebrochene
Kiefer im Branden-
burger Wald

Alexander Osang / DER SPIEGEL

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