Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

Eine mögliche Erklärung für das Problem der fehlenden
Begleiter besagt, dass die Simulationen den Einfluss
der gewöhnlichen Materie – im Wesentlichen des Wasser-
stoffs und des Heliums in Sternen – auf die Bildung und
das Verhalten der Zwerggalaxien nicht richtig berücksichti-
gen. Wenn nun aber gemäß unserem Szenario die Dunkle
Materie größtenteils aus Clustern von primordialen
Schwarzen Löchern besteht, dann herrschen diese
Schwarzen Löcher auch in den die Milchstraße umgeben-
den Nebenhalos vor, absorbieren dort einen Teil der ge-
wöhnlichen Materie und hemmen die Bildung neuer
Sterne.
Selbst wenn in den Nebenhalos viele Sterne entstün-
den, würden sie durch Begegnungen mit massereichen
primordialen Schwarzen Löchern häufig hinausgeworfen.
Beide Effekte würden die Helligkeit der Begleiter beträcht-
lich senken. Immerhin sind mit den empfindlichsten Kame-
ras einige Dutzend äußerst schwacher Zwerggalaxien in
der Nähe der Milchstraße entdeckt worden. Anscheinend
enthalten diese Objekte 100-mal mehr Dunkle Materie als
sichtbare Sterne, und unserem Modell zufolge kreisen
weitere tausende unentdeckt um die Milchstraße.


Eine Antwort auf viele Fragen
Kosmologische Simulationen sagen nicht nur Zwerggalaxi-
en und massereiche Galaxien voraus, sondern auch solche
mittlerer Größe. Derartige Objekte gelten als »too big to
fail« – sie sind groß genug, um bereitwillig Sterne zu
bilden und leicht entdeckt zu werden. Dennoch durchsu-
chen Astronomen die Nachbarschaft der Milchstraße
vergeblich nach ihnen. Die Lösung für das Too-big-to-fail-
Problem ist die gleiche wie für das Rätsel der fehlenden
Begleiter: Im Kern der mittelgroßen Galaxien verborgene
massereiche primordiale Schwarze Löcher werfen Sterne
und sternbildendes Gas aus diesen Galaxien hinaus und
machen sie dadurch für die meisten Durchmusterungen
praktisch unsichtbar.
Primordiale Schwarze Löcher könnten auch erklären,
wie ihre supermassereichen großen Brüder entstehen.
Diese Monster haben die millionen- bis milliardenfache
Masse der Sonne und liegen vermutlich im Zentrum jeder
großen Galaxie. Supermassereiche Schwarze Löcher
können nicht einfach aus dem Gravitationskollaps der
ersten Sterne im Universum hervorgegangen sein, denn
dann hätten sie nicht in relativ kurzer Zeit – weniger als
eine Milliarde Jahre nach dem Urknall – derart gigan-
tische Massen erreicht.
In unserem Szenario haben zwar die meisten primordia-
len Schwarzen Löcher nur ein paar Dutzend Sonnenmas-
sen, aber einige sind viel schwerer, mit mehreren Hundert
bis zu Zehntausenden davon. Diese kaum eine Sekunde
nach dem Urknall entstandenen Riesenobjekte wirkten als
Keimzellen für die Bildung der ersten Galaxien und Quasa-
re, und in deren Zentrum wiederum entwickelten sich
rasch supermassereiche Schwarze Löcher. Solche Keime
erklären auch die Existenz von mittelgroßen Schwarzen
Löchern mit tausend bis zu einer Million Sonnenmassen,
die um supermassereiche kreisen und im Zentrum von
Kugelhaufen sitzen.


Alles in allem sind primordiale Schwarze Löcher viel-
leicht das gesuchte Zwischenglied zwischen gewöhnlichen
stellaren und supermassereichen Schwarzen Löchern. Für
das Szenario sprechen viele Beobachtungen der letzten
Zeit. Die Entdeckung unerwartet häufiger Röntgenquellen
im frühen Universum lässt sich am einfachsten durch
große Mengen primordialer Schwarzer Löcher erklären,
die knapp eine Milliarde Jahre nach dem Urknall Gas
verschlangen und dabei Röntgenstrahlen aussandten.

Gravitationswellen als Boten der Dunklen Materie
Massereiche primordiale Schwarze Löcher würden auf
einen Schlag das Rätsel der Dunklen Materie und weitere
kosmologische Probleme lösen, aber erst die Zukunft wird
zeigen, ob sie gegen andere Modelle und Erklärungen
bestehen können. In den kommenden Jahren werden
mehrere denkbare Tests das Konzept der primordialen
Schwarzen Löcher auf die Probe stellen (siehe »Künftige
Indizien für primordiale Schwarze Löcher«, links).
Vor allem besitzen wir nun mit Advanced LIGO und
anderen Gravitationswellendetektoren völlig neue Instru-
mente zur Erforschung des Kosmos. Wenn LIGO tatsäch-
lich Verschmelzungen aus einer ganzen Population masse-
reicher primordialer Schwarzer Löcher entdeckt hat,
dürfen wir bald viele weitere derartige Ereignisse erwar-
ten. 2016 und 2017 vermeldeten die LIGO-Forscher neue
Entdeckungen. Gravitationswellen sind etwa bei der
Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher mit 14 bezie-
hungsweise 8 Sonnenmassen entstanden sowie bei einem
Ereignis mit 30 und 20 Sonnenmassen. Weitere Kandida-
ten werden derzeit überprüft.
Nach diesen ersten Beobachtungen treten Paare von
Schwarzen Löchern häufiger auf als erwartet, und sie
besitzen höchst divers verteilte Massen. Das würde unser
Szenario bestätigen, das die Dunkle Materie durch masse-
reiche primordiale Schwarze Löcher erklärt. Warten wir
es ab – erhellende Zeiten stehen bevor.

QUELLEN
Bird, S. et al.: Did LIGO Detect Dark Matter?
In: Physical Review Letters 116, 201301, 2016
Clesse, S., García-Bellido, J.: Massive Primordial Black Holes
from Hybrid Inflation as Dark Matter and the Seeds of Galaxies.
In: Physical Review D 92, 023542, 2015
Clesse, S., García-Bellido, J.: The Clustering of Massive Prim ordial
Black Holes and Dark Matter: Measuring their Mass Distribution
with Advanced LIGO. In: Physics of the Dark Universe 15,
S. 142–147, 2017
García-Bellido, J. et al: Density Perturbations and Black Hole
Formation in Hybrid Inflation. In: Physical Review D 54,
S. 6040–6058, 1996
Kashlinsky, A.: LIGO Gravitational Wave Detection, Primordial Black
Holes, and the Near-IR Cosmic Infrared Background Anisotropies.
In: Astrophysical Journal Letters 823, L25, 2016

LITERATURTIPP
Dobrescu, B. A., Lincoln, D.: Der verborgene Kosmos.
In: Spektrum der Wissenschaft 11/2015, S. 42–
Beschreibt zahlreiche Hypothesen für Dunkle Materie jenseits der
WIMPs
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