Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 115

Besonders RTL ist der Retromanie anheim-
gefallen. Anfang des Jahres legte man dort
zum Beispiel »7 Tage, 7 Köpfe» neu auf, jene
Panelshow, in deren Anfangstagen ab 1996
sich vor übersichtlich ausgebreiteter Nach-
richtenlage unter anderem Rudi Carrell, Mike
Krüger und Karl Dall gegenseitig niedermach-
ten. Nun versammelte der von der ARD ge-
schasste »Verstehen Sie Spaß?«-Moderator
Guido Cantz Personal aus dem RTL-Inventar
wie Kaya Yanar, Mirja Boes oder Bernd Stel-
ter, um überschaubar originell über Veganis-
mus, Wärmedämmungsauflagen und alles
andere zu wettern, was die Gegenwart mit
ihrem Diktat zur Achtsamkeit an Zumutungen
bereithält.
Wenig Freude am Heute haben auch die
beiden Hauptdarsteller aus der Krimiserie
»Balko«: Im März waren Ludger Pistor und
Jochen Horst für ein Spielfilm-Remake des
Neunzigerhits vor die Kamera zurückgeholt
worden. Horst, 60, dämmerte als Pensionär
Balko unter der Sonne Teneriffas, wurde dann
aber von den Filmemachern durch einen al-
bernen Action-Parcours gejagt.
Auf der Jagd nach der Generation 50 plus
holt RTL nicht nur das alte Personal aus dem
Ruhestand, sondern auch die alten Möbel aus
dem Keller. Sogar den »Heißen Stuhl« haben
die Verantwortlichen für die neue Sonntags-
ausgabe von »stern TV« entstaubt. Es wird
auch nicht davor zurückgeschreckt, im Archiv
der Konkurrenz nach Ideen zu kramen: Für
Juni ist »Das RTL Turmspringen« angekün-
digt, bei dem sich Promis und Halbpromis
unter Bauchklatschergefahr unter anderem
vom Zehnmeterbrett in die Tiefe stürzen. Das
von Stefan Raab entwickelte Format lief von
2004 bis 2015 bei ProSieben.
Für die Kreativen bei RTL kommt dieses
Restaurations-TV einer Bankrotterklärung
gleich. Unter der Ägide des Mutterkon-
zerns Bertelsmann, der auch 25 Prozent am
SPIEGEL hält, fusionierte die Sendergruppe
im vergangenen Jahr mit dem Zeitschriften-
verlag Gruner + Jahr. Bertelsmann-Chef Tho-
mas Rabe versprach ein »journalistisches
Powerhouse« mit »Inhalte-Kompetenz«, ein
»stark nach vorn gerichtetes Projekt«. Nach
vorn weist bei RTL aber zurzeit sehr wenig;
dass man der ARD-Konkurrenz mit Pinar
Atalay und Jan Hofer zwei News-Koryphäen
abgeworben hat, um sie für die neue »Tages-
themen«-Konkurrenzsendung »RTL Direkt«
einzuspannen, hilft nicht viel.
Betrachtet man das Programm auf langer
Strecke, wirkt es wie eine Flucht vor den An-
forderungen der Realität. Offenbar will man
dem Publikum, das müde durch Corona und
mutlos durch den unlösbar erscheinenden
Ukrainekrieg vor dem Fernseher sitzt, nichts
mehr zumuten. Stattdessen lenkt man es
durch eine Dauerschleife von Gags und Ge-
schichten, die das Jetzt unberührt lassen.
Selbst die angestrebten hochwertigen Se-
rien, mit denen Netflix und Amazon Konkur-
renz gemacht werden soll, stecken tief im
Gestern: In »Faking Hitler« geht es um den


Skandal der gefälschten Hitler-Tagebücher,
der 1983 das Land in Atem hielt. »Der König
von Palma« handelt von der deutschen Tou-
risteninvasion auf Mallorca im Wiederverei-
nigungsjahr 1990. Und brechen dann doch
die aktuellen Nachrichten in diesen Wehmuts-
kokon ein, werden sie bei RTL von Jan Hofer,
72, verkündet, jenem Nachrichtenmann, der
schon in der »Tagesschau« die erfreulichen
Tage der Wiedervereinigung begleitete.
Täglich grüßt das Murmeltier, wöchentlich
»Deutschland sucht den Superstar«. Das ist
der Castingshow-Dinosaurier, von dem RTL
auch nach dem unvermeidlichen Rausschmiss
seines prägenden Jurors Dieter Bohlen nicht
lassen kann. Die samstäglichen Mottoshows
moderiert gerade wieder Marco Schreyl, der
sie auch schon von 2005 bis 2012 präsentier-
te und der in der Sendung immer wieder froh
verkündet, er habe gerade »einen Flashback«.
Da ist er nicht der Einzige. Gleich in der ers-
ten Show mussten die Kandidatinnen und
Kandidaten Lieder singen, bei deren Erschei-
nen sie noch nicht geboren waren – so den
Song »Maniac«, mit dem Alexander Klaws
2003 in der ersten DSDS-Staffel siegte.
Die diffuse Gegenwartsmüdigkeit verbin-
det sich bei RTL mit knallhartem demogra-

fischen Kalkül: Das Publikum wird immer
älter – auch deshalb, weil junge Leute immer
weniger lineares Fernsehen schauen, sondern
eher Programme streamen. Der Kipppunkt
liegt bei 50 Jahren: Darüber nimmt der Kon-
sum des klassischen Fernsehens stetig zu, da-
runter nimmt er von Jahrgang zu Jahrgang
drastisch ab. In dieser Not glauben sich die
Fernsehmanager nun dazu gezwungen, sich
ausgerechnet bei jenen Leuten anzubiedern,
die man früher bewusst aus der werberele-
vanten Zielgruppe ausschloss. Jetzt soll die
Generation 50 plus quotenmäßig die kritische
Masse halten, die es braucht, um für Werbe-
kunden attraktiv zu bleiben.
Auch bei der Konkurrenz von Sat.1 hat das
Boomer-Melken längst begonnen. Die Neu-
auflage der Gameshow »Geh aufs Ganze!«,
die im November die Reihe der Entmumifi-
zierungen eröffnete, wirkte noch wie ein ori-
gineller Retro-Gimmick. Man konnte sie für
eine selbstironische Reaktion der Privaten auf
die vorausgegangene, mit großem Rührungs-
getöse vollzogene Reanimation von »Wetten,
dass ..?« halten – bis dann im Privatfernsehen
eine abgewrackte Sendung nach der anderen
neu aufgelegt wurde und man dahinter bei
bestem Willen keine augenzwinkernden
Hommagen an die eigenen Sendergeschichten
mehr vermuten konnte.
Seine Jagd aufs betagtere Publikum be-
schreibt der Sender so: »Das Sat.1, woran wir
bauen, ist eine Marke, die sehr erwachsen
ist«, sagte Senderchef Daniel Rosemann im
Januar. Meint: Der bunte Ball im Senderlogo
thront jetzt über etlichen Grauschöpfen. Im
März kehrte Jörg Pilawa von der ARD zurück
zur alten Heimat, Ende Mai soll Ex-RTL-Star-
moderatorin Birgit Schrowange mit ihrer
Show »Birgits starke Frauen« starten. Ziel-
gruppe seien »vor allem Frauen ab 40 auf-
wärts«. Dass es dabei sehr weit aufwärts ge-
hen soll, machte der Sat.1-Boss deutlich, in-
dem er die 64-jährige Schrowange als perfek-
tes Role-Model feierte: Sie stehe »ganz ty-
pisch für die Frauen, die wir auch einsammeln
wollen als Zuschauerinnen und als Fans,
starke, selbstbewusste Frauen im besten Alter
sozusagen, der besten Phase ihres Lebens«.
Und die man dabei nicht mit neuem Per-
sonal belästigen will, an das sich das Publikum
erst noch gewöhnen müsste. Wer Sat.1 und
RTL guckt, soll sich offenbar so fühlen wie die
Mutter aus »Good Bye, Lenin!«, die im Koma
die Wiedervereinigung verpasst hat und der
man nach ihrem Erwachen mit konservierten
Sendungen aus der Vergangenheit die Illusion
beschert, es gebe keine Veränderung – und so
auch keinen Grund zur Sorge.
Aber ein Fernsehen, das manisch in die
Vergangenheit blickt, wird den Weg in die
Zukunft nicht finden. Wer soll diese Welt-
flucht in Dauerschleife schauen? Die katastro-
phalen Quoten von »7 Tage, 7 Köpfe« oder
»Balko Teneriffa« künden schon davon: Auf
lange Sicht schaffen sich RTL, Sat.1 und
ProSieben selbst ab.
Christian Buß, Anja Rützel n

Reanimierte Unterhaltungssendungen:
1 | Raab-Nachfolger Pufpaff in ProSieben-Show
»TV total« 2 | RTL-Comedy-Talk » 7 Tage,
7 Köpfe« 3 | Neuer Sat.1-Star Schrowange in
»Birgits starke Frauen«

1

2

3

RTL+

Marc Rehbeck / SAT.1

Willi Weber / ProSieben
Free download pdf