Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

14 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.

Grün«, der den Austausch zwischen Armee und
Partei fördern will. Hecken ist einer von zwei
Vorsitzenden. Der Verein hat mittlerweile
knapp 60 Mitglieder, die meisten davon aus
dem Umfeld der Bundeswehr. »Wir sehen uns
als Brücke, um die gesellschaftlich notwendige
Debatte über die Bundeswehr auch in der grü-
nen Partei zu führen«, sagt Hecken, Mitglied
im Kreisverband Hamburg-Altona.
Neben seinem Amt als Vereinsvorsitzender
ist er stellvertretender Sprecher der Bundes-
arbeitsgemeinschaft Frieden und Internatio-
nales. Diese Gremien, kurz BAGs, haben bei
den Grünen eine wichtige Funktion – sie sind
so etwas wie die inhaltlichen Werkbänke der
Partei, hier entstehen die Bausteine, aus
denen später Wahlprogramme werden. Und
ausgerechnet ein Soldat ist hier, wo über den
Frieden nachgedacht wird, mittlerweile stell-
vertretender Sprecher?
Hecken sieht darin keinen Widerspruch,
die BAG offenbar ebenfalls nicht. Auch das
sagt eine Menge über das entspannte Verhält-
nis, das die Grünen mittlerweile zum Militär
haben.
Überhaupt, sagt Hecken, begegne man
seinem Verein in der Partei sehr unaufgeregt.
»Ganz vereinzelt gab es Widerspruch. Aber
niemand ist an uns herangetreten, um zu sa-
gen: Was soll das? Ganz im Gegenteil.« Auch
das wäre früher wohl anders gewesen.
Kritik am Verein, sagt Hecken, sei eher
von außen gekommen: Als Soldat müsse man
doch konservativ sein, hätten ihm Einzelne
gesagt. Das Verhältnis zur Grünenparteibasis
hingegen sei gut, seit dem Krieg sei das Inte-
resse an seinen Themen und am Verein sehr
groß. »Wir sehen, dass durch den Krieg bei
vielen ein Umdenken stattgefunden hat. Das
war auch notwendig.«
Aber so etwas kommt nicht von heute auf
morgen, nicht einmal unter dem Druck einer
Invasion wie in der Ukraine. Es braucht dafür,
zusätzlich zum unmittelbaren Realitätsschock,
lange Vorarbeit, über Jahre. Eine, die diese
Vorarbeit geleistet hat, ist Agnieszka Brugger.
Brugger, 37, stellvertretende Fraktionsvor-
sitzende, sitzt schon seit mehr als einem Jahr-


zehnt im Parlament und prägt fast ebenso
lange die Außen- und Verteidigungspolitik
ihrer Partei. Sie trägt Piercing im Gesicht, die
Haare sind rot gefärbt, und sie kann mit Be-
geisterung über feministische Außenpolitik
sprechen, gehört zum linken Flügel der Grü-
nen. Mit Waffen kennt sie sich aus, ist faszi-
niert von Technik und Marinehubschraubern.
Wenn man so will, ist sie die personifizierte
Versöhnung der Grünen mit dem Militär.
Sie gibt sich bescheiden und betont, vor
ihr hätten schon andere viel Vorarbeit geleis-
tet, der ehemalige Bundestagsabgeordnete
Winfried Nachtwei etwa, der sich wie kaum
ein Zweiter mit dem Afghanistaneinsatz der
Bundeswehr auskannte. Oder Omid Nouri-
pour, der heutige Parteichef. Aber Brugger
war entscheidend dafür, dass die Grünen in
der Truppe mittlerweile viel breiter akzeptiert
sind – weil die Soldatinnen und Soldaten ir-
gendwann merkten, dass die junge Abgeord-
nete sich besser auskannte als die allermeisten
Anzugträger, die nach Afghanistan, Mali oder
Stetten am kalten Markt zu Besuch kamen.
Anfangs, erzählt Brugger, habe sie gefrem-
delt: »Hierarchie, Uniform, Waffen, das war
nicht meine Welt.« Aber sie habe zugehört,
Interesse gezeigt und so ihre Distanz abge-
baut. Als sie erfuhr, dass die Soldaten in Af-
ghanistan keine Möglichkeit hatten, Video-
telefonie zu nutzen, schrieb sie einen Antrag
im Bundestag. Als der Bundeswehrverband
auch die Grünen bat, zu Weihnachten Bot-
schaften an die Soldatinnen und Soldaten zu
unterschreiben, gab sie diese Bitte weiter, so
erzählt sie es. Zu Beginn seien einige ihrer
Parteifreunde noch skeptisch gewesen, mitt-
lerweile sei es normal. Für die Truppe im Ein-
satz sind diese Briefe ein wichtiges Symbol.

Am Ende aber, wenn es um die großen
Fragen geht, wenn unter dem Druck der Er-
eignisse historische Entscheidungen fallen
müssen, kommt es nicht mehr auf Fachpoli-
tikerinnen an, sondern auf die Spitze, auf
diejenigen, die das Sagen haben, die Linie
vorgeben.
Bei den Grünen sind das, auch wenn sie
nicht mehr Parteichefs sind, Außenministerin
Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister
Robert Habeck. Den aktuellen Kurs ihrer Par-
tei beim Thema Waffenlieferungen haben
maßgeblich sie geprägt, die Partei ist ihnen
gefolgt.
Vor einem knappen Jahr besuchte Habeck
die Frontlinie zu den bereits damals um-
kämpften Separatistengebieten des Donbass.
Mit kugelsicherer Weste und Schutzhelm
kniete er an einer Straße, die übersät war von
Patronenhülsen, einem Reporter des Deutsch-
landfunks sprach er ins Mikrofon: »Waffen
zur Verteidigung, zur Selbstverteidigung, De-
fensivwaffen, kann man meiner Ansicht nach
der Ukraine schwer verwehren.«
Das war damals ein unerhörter Satz, er
brach mit der bisherigen Linie der deutschen
Außenpolitik unter Angela Merkel genauso
wie mit der Linie der Grünen. Und Habeck
widersprach damit der Co-Vorsitzenden und
Kanzlerkandidatin Baerbock, deren Mantra
lautete: keine Waffenlieferungen in Kriegs-
gebiete. In der Partei brach Protest los.
Baerbock versuchte zu retten, was zu ret-
ten war, sie versuchte mitten im Wahlkampf,
Habecks Aussage bis zur Unkenntlichkeit um-
zudeuten. Unter dem emotionalen Einfluss
des Frontbesuchs habe er sich eben unge-
schickt ausgedrückt, so lautete die Erklärung,
die kaum jemanden überzeugte. Habeck
schwieg, um keinen weiteren Schaden anzu-
richten. Doch er hatte mitnichten im Affekt
gesprochen, sondern aus Überzeugung.
Nach der Wahl übernahm er jenes Haus,
das bei der Genehmigung von Waffenexpor-
ten eine zentrale Rolle spielt: das Wirtschafts-
ministerium. Als zuständigen Staatssekretär
setzte er seinen Vertrauten Sven Giegold ein,
der zwar tiefgläubiger Christ ist, über Waffen-

»Wir müssen verhindern,
dass aus diesem Land
ein zweites Syrien wird.«
Marieluise Beck

Grüner Habeck in
der Ukraine

Außenministerin Baerbock
an der Kontaktlinie
Olexandr Techynskyy / F.A.Z. Bernd von Jutrczenka / REUTERS
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