Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR


76 FOCUS 18/2022


N


eulich spielte Sofiane
Pamart unter dem Po-
larlicht. Drei Tage lang
hatten zwanzig Hel-
fer seinen Bechstein
durch die Kälte Lapp-
lands geschleppt, dann
legte Pamart die schwer beringten Fin-
ger auf die Tasten, ließ seine Melodien
perlen, über sich den neongrünen Schim-
mer der Aurora borealis. Zuschauer in
aller Welt verfolgten das Spektakel live
im Internet, es wurde gestreamt vom
YouTube-Kollektiv Cercle, das normaler-
weise Technokünstler inszeniert.
Normalerweise kollaborieren klassi-
sche Pianisten nicht mit Rappern. Nor-
malerweise tragen sie keine sündteure
Haute Couture, färben ihr Haar nicht
platinblond, protzen nicht mit klobigen
Goldketten und Zahnschmuck. Normaler-
weise verkaufen sie ihre Bilder nicht zu
Wucherpreisen im Internet, normalerwei-
se ist ihr Publikum eher jenseits der 50.
Für Sofiane Pamart scheinen die Regeln
des Klassikbetriebs nicht zu gelten, denn
der ist – normalerweise – furchtbar öde.


Virtuose der Selbstvermarktung


Mit 100 Millionen Streams gehört Pamart
zu den zehn meistgehörten Klassik-
interpreten auf Spotify, das französische
Magazin „Numéro“ schwelgt, er sei „ein
Pianist und Geschäftsmann, der Debussy
hört und für Rapper komponiert“. In
Frankreich ist er bereits ein Star, nun will
er die ganze Welt erobern – schließlich ist
er der „Piano King“ (Pamart über Pamart).
Die Krone hat sich der 32-Jährige selbst
aufgesetzt, mit einer Selbstverständlich-
keit, die an Größenwahn grenzt.
Im März ist in Deutschland sein zwei-
tes Album „Letter“ erschienen. Zu hören
sind 18 kurze Klavierstücke, nur sparsam
von einem Cello unterlegt, mal poetisch-
verträumt, mal getragen von einer ver-
wehten Schwermut, die Landschaften
zaubert. Pamart nimmt starke Anleihen
in der Romantik, würzt sie mit jazzigen
Tupfern und einem Touch lateinamerikani-
scher Melancholie. Er hat sich einiges bei
Chopin abgeschaut, vielleicht auch beim
Minimalisten Ludovico Einaudi oder den
Rhythmen des Kubaners Ernesto Lecuona.
Wahnsinnig innovativ ist dieser sentimen-
tale Neoklassizismus nicht. Doch mit sei-
nen eingängigen Melodien, die oft an Film-
musik erinnern, hat sich Sofiane Pamart
eine ergebene Anhängerschaft jenseits der
Klassikszene erarbeitet.


Sofiane Pamart wurde 1990 im nord-
französischen Lille geboren, als Nach-
fahre marokkanischer Einwanderer. Seine
Mutter, eine Französischlehrerin, bemerkte
eines Tages, wie der Vierjährige auf dem
Spielzeugklavier Melodien aus dem Fern-
sehen nachspielte. Sie schickte Sofiane auf
eine Musikschule, mit sieben besuchte er
das Konservatorium von Lille.
Pamart wollte sich nie so recht einfü-
gen in die konservative Welt des Konser-
vatoriums. Wie so viele Menschen seiner
Generation mit Migrationshintergrund zog
es ihn zum Hip-Hop. „Klassische Musik
gefiel mir anfangs gar nicht“, erinnert er
sich. „Ich war froh, dort lernen zu dürfen.
Aber ich wollte nicht so sein wie sie. Lieber
wollte ich draußen rumhängen und die
Gegend unsicher machen.“
Nach 15 Jahren als Schüler der Musik-
akademie unterrichtete er dort zwei Jahre
lang Klavier. Als er das Institut verließ,
war er 23 Jahre alt und hatte gerade die
Goldmedaille des Nationalkonservatori-
ums gewonnen für seine Darbietung der


  1. Ballade von Frédéric Chopin. Doch statt
    sich um eine Anstellung bei einem Orches-
    ter zu bemühen, studierte er BWL. „Ich
    sah die Stars im Fernsehen und dachte:
    Ich will unbedingt so leben“, sagt Pamart.
    „Auf dem Konservatorium wird man nicht
    darauf vorbereitet, berühmt zu werden.“


Einen Zoom-Anruf beantwortet Pamart
in seiner Mansardenwohnung gleich an
den Champs-Élysées. Er setzt diese Brille
auf, die sein Markenzeichen ist – eine
Cyberpunk-Version des John-Lennon-
Modells – setzt sie dann aber schnell wie-
der ab. Am Abend zuvor, erzählt Pamart,
habe er in der Salle Pleyel gespielt, dem
renommierten Pariser Konzertsaal („Nur
die besten Pianisten dürfen dort spie-
len!“), es kamen 2700 Leute („Drei Stan-
ding Ovations!“), heute gebe er schon
den ganzen Tag Interviews („14 insge-
samt!“). Sein französischer Akzent ist so
schwer wie ein Châteauneuf-du-Pape,
manchmal überschlägt sich seine Stim-
me, so viele Worte auf einmal wollen hi -
naus. Alors, Monsieur Pamart – was
macht Sie denn nun zum Piano King?
„Piano King ist für mich mehr als ein
Titel, es ist ein Motto“, sagt er. „Es ist ein
Mantra, das ich wiederhole und das mir
hilft, Dinge zu tun, die ich nie für möglich
gehalten hätte. Der Piano King ist nicht der
beste Spieler. Er ist der Auserwählte, der
Liebling des Publikums. Der will ich sein.“

„Meine wichtigste


Beziehung ist die zu


meinem Publikum.


Von ihm bekomme


ich so viel Liebe“


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