Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 103
Wohnung eines
Unbehausten
KUNST Als der chinesische
Künstler Ai Weiwei vor zwei
Jahren Berlin verließ, war man
in der deutschen Hauptstadt
etwas verschnupft. Ai gab zum
Abschied ein Interview, in dem
er über die Deutschen lästerte,
sie intolerant, bigott und auto-
ritär nannte und die Berliner
unhöflich. Das hörte man an der
Spree natürlich gar nicht gern.
Hatte man ihn nicht aufgenom-
men, als er China verlassen
musste? Der Künstler zog nach
London. Aber auch da hielt es
ihn nicht lange. Nun lebt er in
Portugal – und hat seine Ber-
liner Wohnung als Ausstellung
eröffnet. Eigentlich sollte sie
verkauft werden, doch die Mak-
lerfirma vermietete sie offen-
sichtlich an Filmfirmen, die dort
Werbeclips drehten, was Ai
ärgerte. Mit »The Pleasure of
Home« holt er sie sich symbo-
lisch zurück. Tatsächlich eröff-
net sie aber eine interessante
Perspektive auf Ai. In den Zim-
mern werden Fotos von ihm
und seiner Familie gezeigt, die
genau dort aufgenommen wor-
den sind. Doch was auf den
ersten Blick aussieht wie Erin-
nerungen, die durch Bilder ver-
ewigt worden sind, transportiert
noch etwas anderes: ihre Ver-
gänglichkeit. War nicht eine Ins-
tallation aus 9000 Kinderruck-
säcken an der Fassade des
Münchner Hauses der Kunst,
die an die Opfer eines verhee-
renden Erdbebens in China er-
innerten, eines seiner größten
Kunstwerke? Hat er nicht Vasen
fallen lassen? Am »Vogelnest«
mitgearbeitet, dem Olympia-
stadion von Peking? Ai Weiwei
ist ein großer Unbehauster.
Der jetzt Menschen in seine
Wohnung lässt. RAP
Zum Glück immer
noch nicht U 2
POP Als Arcade Fire vor etwa
20 Jahren die Weltbühne des
Pop betraten, galten sie schnell
als die neuen Posterboys und
-girls des Indierock. Damals, als
Bands noch für Hoffnung stan-
den, vertonte die kanadische
Gruppe um das Ehepaar Win
Butler und Régine Chassagne
die geheimen Wünsche von
Hipstern so treffend wie sonst
niemand. Die Mitgrölmusik war
zwar in der Umgebung verfal-
lender Warenhäuser aufgenom-
men worden – aber eigentlich
gemacht für volle Arenen, die
nicht mehr Rockonkeln wie U2
vorbehalten sein sollten. »Fune-
ral« hieß das Debütalbum von
Arcade Fire, »Beerdigung«, ein
Meisterwerk, was konnte da
noch kommen? Der Sprung in
die Unendlichkeit vielleicht: ein
Song, in dem David Bowie ein
paar Jahre vor seinem Tod sang,
auf ihrem vierten Studioalbum
»Reflektor«. Songs, die ein biss-
chen zu sehr nach Abba klan-
gen, auf ihrem fünften Album
»Everything Now«. Jetzt, fünf
Jahre später, ist ihr sechstes
Album »We« raus, und auch
das klingt, als blickte die Band
zurück. Nicht mehr nur auf
Abba und Bowie, sondern
auf ihre eigene Beerdigung.
Auf »We« klingt das elegische
Stampfen von »Funeral« an,
die schöne Tristesse ist wieder
da und mit ihr der für Arcade
Fire typische Mix aus Hoff-
nungsschimmern (»Unconditio-
nal I«) und real existierender
Dystopie (»Age of Anxiety I«).
Das wirkt etwas weniger unge-
stüm als früher, aber auch das
passt sehr gut: Mit »We« sind
Arcade Fire endgültig die neuen
Elder Statesmen und -women
des Indie. Und zum Glück nicht
die neuen U2. SKR
Das Jahr ohne
Sommer
LITERATUR Im April 1815 brach
auf der Insel Sumbawa im
heutigen Indonesien der Vulkan
Tambora aus. Allein auf Sumba-
wa und den benachbarten
Inseln Lombok und Bali starben
über 100 000 Menschen. Der
Vulkanausbruch und seine
Folgen (Hungersnöte, Cholera)
forderten Millionen Opfer
weltweit. Die Asche ver dun-
kelte damals den ganzen Glo-
bus. 1816 wurde deshalb das
»Jahr ohne Sommer« genannt,
auch wenn seine Dramatik
heute vergessen zu sein scheint.
Der Autor Timo Feldhaus hat
mit »Mary Shelleys Zimmer«
jetzt ein zugleich schweres und
leichtes Buch über dieses Er-
eignis geschrieben. Schwer,
weil es neben apokalyptischen
Naturereignissen und Klima-
katastrophen auch privat eher
düster aussieht, es wird viel
gestorben. Leicht, weil alles in
einer ironischen Halbdistanz
erzählt wird. Feldhaus faltet
ein Panorama des Jahres 1816
auf, mit Mary Shelley als Leit-
figur. Shelley, die Autorin von
»Frankenstein«, wird hier als
prophetische, zu früh geborene
Genialistin gezeigt – inmitten
der Klimakrise entwirft sie
einen Schauerroman, eine frühe
Science-Fiction. Man folgt Shel-
leys irrem Leben hingebungs-
voll, so begeistert und melan-
cholisch wird es erzählt. Unter-
brochen wird es durch das
Weltgeschehen. Asche, Regen,
Napoleon bleibt mit seinen
Kanonen bei Waterloo im
Matsch stecken. Asche, ver-
färbter Himmel, Caspar David
Friedrich greift zum Pinsel.
Feldhaus nutzt dieses weltum-
spannende Ereignis, um unsere
Gegenwart an der Vergangen-
heit und die Vergangenheit an
der Gegenwart zu spiegeln. XVC
Vulkan Tambora in Indonesien 2010
Ausstellung »The Pleasure of Home« in Ais Wohnung in Berlin
Arcade Fire
Timo Feldhaus: »Mary Shelleys Zimmer.
Als 1816 ein Vulkan die Welt ver
dunkelte«. Rowohlt; 318 Seiten; 26 Euro.
»The Pleasure of Home«. Greifswalder
Iwan Setiyawan / AP / picture alliance Straße 207, Berlin.
Michael Marcelle
Courtesy the artist and neugerriemschneider, Berlin / Photo: Marjorie Brunet Plaza