Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 25

»Wir leben autark«


DER AUGENZEUGE Siegfried Delzer, 69, hat
die Energiewende vor vielen Jahren vollzogen – 
sein Haus hängt nicht am Stromnetz.

»Der Tag, an dem in Deutsch­
land der Strom ausfällt, wird
kommen. Ich rechne fest da­
mit. Für meine Familie, für
mein Ingenieurbüro ist das
kein Problem. Auch die hohen
Energiepreise in Folge des
Ukrainekriegs betreffen uns
finanziell kaum. Wir leben au­
tark, und das seit 34 Jahren.
Wir haben uns damals
beim Bauen entschieden, es
anders zu machen als alle an­
deren: Unser Haus in Lörrach
hängt nicht am Stromnetz.
Wir sind außen vor, erzeugen
die Energie, die wir brauchen,
selbst. Damals wurden wir be­
lächelt, heute weckt das eher
Begehrlichkeiten. Ich kann
rückblickend nur sagen: Es ist
gelungen.
Wir haben natürlich elek­
trische Zahnbürsten, seit eini­
gen Jahren eine Tiefkühltruhe,
und unsere beiden Kinder
konnten auch heiß baden, als
sie klein waren – es gibt so
viele Vorurteile. Manche den­
ken, wir müssen aufs Fahrrad
steigen, um radelnd noch ein
bisschen Strom zu erzeugen.
Aber fast alles macht die Son­
ne. Die Solarkollektoren an
der Hausfassade und im Gar­
ten decken 98 Prozent unse­
res Strombedarfs, selbst im
Winter haben wir kein Pro­
blem.
Sparsamkeit ist bei uns ein
Leitmotiv, das schulden wir

dem Planeten. Wir sparen
nicht auf die verbissene, son­
dern auf die sportliche Art.
Wir sind runter auf 30 Liter
Heizöl im Jahr.
Das Zweifamilienhaus ist
klug geplant und gebaut.
Wichtig sind die Kastenfens­
ter: vorne Glas, hinten Glas,
dazwischen ein Hohlraum.
Die Sonne heizt dort die Luft
auf, die steigt nach oben und
wird in einen Schacht geleitet,
der durch alle drei Stockwer­
ke bis ins Erdgeschoss führt.
Das Prinzip ist ein bisschen
wie bei den Römern, die Wär­
me strömt in Zwischenböden
und in die abgehängte Decke.
Ohne den Kachelofen und viel
Holz geht es im Winter nicht,
der ist an den Luftschacht an­
geschlossen.
An eiskalten Tagen kommt
der Dieselmotor im Keller
ins Spiel. Den werfen wir im
Schnitt 18 Stunden im Jahr
an, das genügt. Er lädt den
Stromspeicher, drei zusam­
mengehängte Gabelstapler­
batterien, und mit der Ab­
wärme heizen wir. Ein kleiner
Wärmetauscher macht das
möglich.
Das könnten viel mehr
Menschen umsetzen, einige
Nachbarn und Kunden sind
auch fast so weit. Wer will
schon vom russischen Gas ab­
hängig sein?«

»Totalisierung des


Kriegs verhindern«


Der CDU-Außenexperte und
frühere Bundeswehrkomman-
deur Roderich Kiesewetter, 58,
über seine Reise nach Kiew


SPIEGEL: Sie waren mit CDU­
Chef Friedrich Merz in der
Ukra ine. Was haben Sie erlebt?
Kiesewetter: Die Zuversicht vor
Ort ist groß, dass die Ukraine
diesen Krieg nicht verliert. Was
in Schutt und Asche liegt, wird
sofort wieder aufgebaut. Und
Entscheidungen wie vorige Wo­
che im Bundestag zur Lieferung
schwerer Waffen sorgen erst
recht für Zuversicht. Grundsätz­
lich gibt es drei Forderungen an
den Westen: Sicherheitsgaran­
tien, Unterstützung für den
Kampf gegen Russland und eine
EU­Beitrittsperspektive.
SPIEGEL: Welchen Eindruck hat­
ten Sie vom ukrainischen Präsi­
denten Selenskyj?
Kiesewetter: Er war fokussiert,
freundlich, frei von jeder Attitü­
de – wirklich bemerkenswert
angesichts seiner Lage. Selens­
kyj weiß, was er will, und pala­
vert nicht lange herum. Er wirk­
te wie eine echte Führungskraft.
Ich hatte den Eindruck, dass der
ukrainische Präsident sehr, sehr
dankbar für unseren Besuch
war. Er weiß um die innenpoliti­
schen Befindlich­
keiten in Deutsch­
land. Selenskyj
kannte sogar die
Abstimmungsver­
hältnisse im Bun­
destag zum Ukrai­
ne­Antrag.
SPIEGEL: Schwere
Waffen aus
Deutschland sind


auf dem Weg, nachdem Kanzler
Scholz seine Linie revidiert hat –
reicht das aus?
Kiesewetter: In unserer Bevöl­
kerung herrscht immer noch
eine gewisse romantische Vor­
stellung über Russland und we­
nig Kenntnis über die Brutalität
des Krieges, den Wladimir Pu­
tins Truppen in der Ukraine
führen. Putin will ein Exempel
statuieren dafür, dass er die
Landkarte nach seinem Gut­
dünken gestalten kann. Deshalb
liegt es auch an Deutschland da­
gegenzuhalten – etwa mit der
Lieferung schwerer Waffen.
Aber wichtig ist, die internatio­
nalen Lieferungen zu harmoni­
sieren. Damit nicht erst im Feld
festgestellt wird, dass irgend­
welche Systeme nicht kompati­
bel sind.
SPIEGEL: Sie haben vor einer
Generalmobilmachung in Russ­
land gewarnt. Was würde das
denn für den Krieg bedeuten?
Kiesewetter: Eine massive Aus­
weitung und Verschiebung des
Kräftegleichgewichts. Und die
Russen würden sicher noch bru­
taler vorgehen, weil Putin es
sich dann erst recht nicht leisten
könnte, diesen Krieg zu verlie­
ren. In Russland würde es wohl
die Einführung des Kriegsrechts
bedeuten, inklusive Schieß­
befehl gegen Demonstranten.
Deshalb muss jetzt alles getan
werden, um Putin
klarzumachen,
dass er sich auch
gegenüber seiner
eigenen Bevölke­
rung endgültig iso­
lieren würde. Die
Totalisierung des
russischen Krieges
muss verhindert
werden. FLO

Mehr Lohn in JVAs?


STRAFVOLLZUG Einer Lohnan­
hebung für die Arbeit von Ge­
fängnisinsassen stehen die Bun­
desländer skeptisch gegenüber.
Das zeigt eine Umfrage des
SPIEGEL unter den Justizminis­
terien der Länder. »Die Gefan­
genenarbeit dient vornehmlich
der Resozialisierung und nur
nachrangig der Erwirtschaftung
von Einnahmen«, heißt es etwa
aus Thüringen. Hessen merkt
an, dass die »Produktivität der
Gefangenen häufig unterdurch­


schnittlich« sei, Bayern befürch­
tet, dass Unternehmen, die in
Justizvollzugsanstalten (JVAs)
produzieren lassen, ins Ausland
ausweichen könnten. Lediglich
Berlin zeigte sich offen für
Lohnerhöhungen. Hintergrund
der Diskussion ist eine Be­
schwerde mehrerer Gefangener,
über die das Bundesverfas­
sungsgericht entscheiden soll.
Sie fordern mehr Lohn für die
Arbeit in Haft. Gefängnisinsas­
sen verdienen durchschnittlich
zwischen 1,37 und 2,30 Euro
pro Stunde. SOG

Kiesewetter Aufgezeichnet von Christine Keck

Britt Schilling / DER SPIEGEL

Leon Kuegeler / photothek / IMAGO
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