DEUTSCHLAND
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 31
SPIEGEL: Frau Baerbock, wie viel feministi-
sche Außenpolitik ist in Zeiten des Krieges
möglich?
Baerbock: Kern feministischer Außenpolitik
ist es, alle Menschen im Blick zu haben. Das
ist kein Schönwetterthema. Gerade in Kriegs-
zeiten ist es wichtig, nicht nur taktische Batail-
lonsgruppen zu zählen, sondern die Leiden
der Zivilbevölkerung auf dem Schirm zu ha-
ben. Kinder leiden anders unter Bombarde-
ments als Erwachsene. Ältere Menschen kön-
nen nicht so leicht fliehen wie jüngere. Frau-
en sind zusätzlich sexualisierter Gewalt aus-
gesetzt. All das ist kein Gedöns, sondern führt
zu einer umfassenderen und damit stärkeren
Sicherheitspolitik.
SPIEGEL: Waffenlieferungen und Aufrüstung
gehören nicht zur Denkschule der feministi-
schen Außenpolitik. Wie schwer war es für Sie
persönlich, diese Kurswechsel zu vollziehen?
Baerbock: Ich widerspreche Ihrer These. Fe-
minismus bedeutet nicht, den Opfern von
Gewalt zu sagen: Wehrt euch nicht! Das wäre,
als würde man einer Frau, die nachts über-
fallen wird, sagen: Leiste keinen Widerstand
und rufe nicht um Hilfe. Militär kann immer
nur das letzte Mittel sein, aber es kann Opfer
in die Lage versetzen, sich wehren zu können.
SPIEGEL: »Abrüstung und Demilitarisierung
sind eine Hauptforderung feministischen
Denkens« – das ist nicht unsere These, son-
dern eine Aussage von Kristina Lunz vom
Centre for Feminist Foreign Policy.
Baerbock: Und das ist absolut richtig. Auch in
den Konzepten der Nato steht Abrüstung als
ein wichtiges Element von Sicherheit. Aber
damit wird ein anderer Grundsatz nicht nich-
tig: dass es ein Recht auf Selbstverteidigung
gibt, für Personen wie für Staaten. Die Ent-
scheidung für Waffenlieferungen ist kein
Selbstzweck, und sie macht nicht alles neu
und anders. Es bleibt richtig, dass sich Sicher-
heit nicht auf das Militär beschränkt. Dazu
gehört Entwicklungszusammenarbeit, um zu
verhindern, dass aus Krisen Kriege werden.
Dazu gehört, dass Kriege nicht nur auf mili-
tärischem Weg, sondern durch Verhandlun-
gen beendet werden. Und Studien belegen,
dass Friedensvereinbarungen länger halten,
wenn Frauen daran beteiligt sind – nicht weil
Frauen bessere Menschen sind, sondern weil
sonst die Hälfte der Gesellschaft fehlt. Putins
Apparat ist das genaue Gegenteil, die Mäch-
tigen in seinem Umfeld sind alles Männer.
SPIEGEL: Auch auf ukrainischer Seite sitzen
in den Waffenstillstandsverhandlungen nur
Männer. Würden Sie der Regierung in Kiew
raten, Frauen ins Team zu holen?
Baerbock: Ich kenne in der ukrainischen Politik
eine ganze Reihe von Frauen in Führungsposi-
tionen. Aber das ist nicht nur ein Thema für
Kriegsparteien. Wenn die Hälfte der Gesell-
schaft vernünftig repräsentiert ist, bedeutet das
eine Stärkung der Demokratie, und zugleich
werden bessere Entscheidungen getroffen.
SPIEGEL: Sie waren bis zum russischen Angriff
gegen Waffenlieferungen an die Ukraine –
war das rückblickend ein Fehler?
Baerbock: Wir haben bis zum letzten Tag alles
versucht, um einen militärischen Einmarsch
der Russen zu verhindern. Auch ich dachte,
es gäbe eine letzte Chance, dass Moskau an
den Verhandlungstisch zurückkehrt. In einer
solchen brenzligen Situation muss man sorg-
fältig abwägen, ob man durch eigenes Han-
deln Schlimmeres bewirkt oder es verhindert.
Mit deutschen Waffenlieferungen hätten wir
Herrn Putin einen Vorwand mehr geliefert,
die Ukraine anzugreifen. Wir wollten ihm
diesen Gefallen nicht tun. Stattdessen musste
der russische Präsident zu der absurden Be-
hauptung greifen, er müsse die Menschen in
der Ukraine vor Nazis schützen.
SPIEGEL: Hätten Leben gerettet werden kön-
nen, wenn die Ukraine besser ausgerüstet ge-
wesen wäre?
Baerbock: Da wir heute wissen, dass Putin
die Ukraine in jedem Fall angreifen wollte,
frage ich mich natürlich rückblickend, ob es
irgendetwas besser gemacht hätte, wenn
auch Deutschland früher Waffen geliefert
hätte. Niemand kann mit Sicherheit sagen,
wie viel das verändert hätte. Andere haben
ja geliefert, und trotzdem wurde die Ukraine
überfallen.
SPIEGEL: Wird das Ihre Abwägungen in Zu-
kunft prägen? Werden Sie sich, wenn etwa
die russischen Drohungen gegenüber der Re-
publik Moldau oder Georgien zunehmen,
eher zu Waffenlieferungen durchringen?
Baerbock: Für Kriege gibt es keine Blau-
pausen. Natürlich würde in eine zukünftige
Situation einfließen, dass Putin, obwohl er
noch am Tag vorher behauptete, er wolle
verhandeln, sein Versprechen einen Tag spä-
ter brach. Wenn sich die Realität verändert,
muss Politik in der Lage sein, ihr Koordina-
tensystem anzupassen. Alles andere wäre
Dogmatismus.
SPIEGEL: Ihr damaliger Co-Vorsitzender Ro-
bert Habeck forderte bereits im Mai 2021 De-
fensivwaffen für die Ukraine. Hatte er recht?
Baerbock: Wir haben als Grüne deutlich ge-
macht, dass die Ukraine in der Lage sein
muss, sich zu verteidigen. Aber Deutschland
trug damals zusammen mit Frankreich zu-
gleich die Hauptverantwortung der interna-
tionalen Gemeinschaft für den Minsker Ver-
handlungsprozess.
SPIEGEL: Das war damals aber nicht Ihr Argu-
ment. Sie haben auf die traditionelle Haltung
Ihrer Partei verwiesen, nicht in Krisengebie-
te zu liefern. Ist das nicht genau der Dogma-
tismus, den Sie eben abgelehnt haben?
Baerbock: Nein. Und man muss differenzieren
zwischen der grundsätzlichen Linie, keine
Waffen in Krisengebiete zu liefern – was ja
nicht nur die Idee der Grünen ist, sondern das
geben die politischen Grundsätze der Bundes-
regierung vor –, und der Unterstützung für
ein Land, das durch einen brutalen Angriffs-
krieg in seiner Existenz bedroht ist, bei sei-
nem Recht auf Selbstverteidigung. Dazwi-
schen ist ein schmaler Grat. Deswegen muss
man genau abwägen.
SPIEGEL: Auch das Zwei-Prozent-Ziel haben
Sie als Kanzlerkandidatin abgelehnt, jetzt ist
es offizielle Politik der Ampelregierung.
Baerbock: Ich habe immer gesagt, dass es um
die Fähigkeiten der Bundeswehr geht und
nicht um irgendeine Chiffre. Das sehe ich nach
wie vor so, und dafür werbe ich auch bei den
Nato-Partnern. Zwei Prozent der Wirtschafts-
kraft für Militär auszugeben bedeutet, dass
wir in einer Rezession weniger ausgeben wür-
den. Dann erreichen wir zwar die Prozent-
zahl, haben aber noch keinen einzigen Hub-
schrauber gekauft. Deswegen wollen wir nicht
ein wenig aussagekräftiges Zwei-Prozent-Ziel
ins Grundgesetz schreiben, sondern das
100-Milliarden-Euro-Sondervermögen. In
manchen Jahren werden wir dadurch mehr
als zwei Prozent ausgeben, in anderen viel-
leicht etwas weniger.
SPIEGEL: Sind Sie dafür, das 100-Milliarden-
Euro-Sondervermögen nur für die Ausrüstung
der Bundeswehr zu verwenden?
Baerbock: Die 100 Milliarden sind für die Ver-
teidigungs- und Bündnisfähigkeit da, und
zwar ausschließlich. Dazu gehört, dass wir
F-35-Jets kaufen, Hubschrauber, die auch flie-
gen, Munition im zweistelligen Milliarden-
bereich, Funkgeräte, die sicher und mit den
Verbündeten kompatibel sind, und vieles
mehr, um die Streitkräfte auf der Höhe der
Zeit auszustatten. Dazu gehört aber auch,
dass wir uns zum Beispiel gegen Cyberangrif-
fe schützen. Früher wurde kritische Infra-
struktur mit Raketen attackiert, heute werden
Krankenhäuser oder Kraftwerke aus dem
Internet angegriffen. Deswegen sind auch bei
der Cyberabwehr Investitionen in unsere Ver-
teidigungsfähigkeit dringend nötig. Ich will
nicht, dass wir in fünf Jahren feststellen: Wir
können unsere Cyberabwehrstrategie nicht
bezahlen, weil wir das Sondervermögen im
Grundgesetz auf die Bundeswehr beschränkt
haben, die dann vielleicht für diese Aufgabe
gar nicht zuständig ist.
SPIEGEL: Der Kanzler hat im SPIEGEL-Inter-
view von der Gefahr eines Atomkriegs ge-
sprochen. Sehen Sie die auch?
Baerbock: Der russische Präsident hat mit al-
len Vereinbarungen gebrochen, die wir in
Europa getroffen hatten, um in Frieden zu
leben. Eine zentrale Verabredung der Nato-
Russland-Grundakte war, dass wir gemeinsam
über nukleare Abrüstung sprechen. Putin hat
seine Rhetorik da schon vor Jahren verschärft,
aber in der gegenwärtigen Situation eines hei-
ßen Krieges muss man solche Drohungen na-
türlich noch ernster nehmen.
SPIEGEL: Besteht nicht die Gefahr, dass die
Warnung vor einem Atomkrieg die deutsche
Politik paralysiert?
»Studien belegen, dass
Friedensvereinbarungen
länger halten, wenn Frauen
daran beteiligt sind.«