DEUTSCHLAND
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 33
Z
wei Milliarden Euro sind eine
Menge Geld. So viel hat der
Bund für ein Aufholprogramm
für Kinder und Jugendliche nach
der Coronapandemie bereitgestellt.
Die eine Hälfte soll in Programme
gegen »Lernrückstände in den Kern
fächern« fließen. Die andere in früh
kindliche Bildung und soziale Projek
te, um seelische und körperliche Pan
demiefolgen abzumildern. »Es gilt zu
verhindern, dass diese Zeit lange
nachwirkt und bestehende Ungleich
heiten manifestiert werden«, so ha
ben es Bund und Länder in ihrer Ver
einbarung vom 5. Mai 2021 formu
liert. Die Maßnahmen gegen die
Lernrückstände sollten »schnell und
nachhaltig« wirken. Wie sieht’s ein
Jahr später aus?
Wohin das Geld genau fließt, ent
scheidet jedes Land selbst. Allerdings
mussten die Länder zum 31. März Re
chenschaft ablegen: dem Bundesmi
nisterium für Bildung und Forschung
(BMBF) für den schulischen Teil des
Programms, dem Bundesfamilienmi
nisterium für den außerschulischen
Teil. Der Bericht sei »fristgerecht ein
gegangen«, heißt es aus dem BMBF.
»Er wird derzeit ausgewertet.« Ob,
wann und wie die Informationen ver
öffentlicht werden sollten, dazu
schweigt das Ministerium. Vielleicht
aus gutem Grund: Der Bericht, der
dem SPIEGEL vorliegt, zeigt, wie
unterschiedlich die Länder die Auf
gabe erledigen. Abgesehen von ein
paar Vorreitern haben viele Länder
einen Großteil des Geldes bisher nicht
ausgegeben; andere verlieren sich in
einem Gewirr aus Maßnahmen und
Einzelprojekten. Im Wesentlichen
offenbaren sich vier Probleme.
Das erste: Es sollten »Analysen des
Lernstandes« erfolgen, um überhaupt
zu wissen, wer welche Hilfe braucht.
Wie sie vorgegangen sind und welche
Ergebnisse sie erzielt haben, ist im
Bericht nur für sechs Länder beschrie
ben: BadenWürttemberg, Berlin,
Brandenburg, Bremen, Hamburg,
SchleswigHolstein. NordrheinWest
falen weist zwar aus, rund 57 000
Euro in eine Onlineplattform »Dia
gnose und Fördern« investiert zu ha
ben – bis zum Stichtag hätten aber
nur gut 3000 Schülerinnen und Schü
ler daran teilgenommen. Die Schulen
können sich auch für ein anderes Test
instrument entscheiden. »Wenn man
nicht weiß, wie der Lernstand der
Kinder und Jugendlichen ist, kann
man nicht zielgerichtet unterstüt
zen«, sagt Marcel Helbig, Professor
für Sozialwissenschaften am Wissen
schaftszentrum Berlin für Sozial
forschung (WZB). Das Geld werde
dann »blind verteilt, mit der Gefahr
massiver Fehlsteuerung«.
Das zweite Problem: Die Schüle
rinnen und Schüler sollten »individu
elle/zielorientierte Unterstützung«
bei der »Bewältigung pandemiebe
dingter Lernrückstände in Kernfä
chern« erfahren, doch eine klare Stra
tegie scheinen die wenigsten Länder
zu verfolgen. Dabei hatte die KMK
ihre Ständige Wissenschaftliche Kom
mission (SWK) um ein Schnellgut
achten dazu gebeten, wie sich die
coronabedingten Lernlücken schlie
ßen ließen. Das 22seitige Papier liegt
seit Juni 2021 vor, die Empfehlungen
sind allerdings nicht verbindlich.
In vielen Ländern dominiert das
KleinKlein. So kauft Mecklenburg
Vorpommern »Lern und Förder
materialien«. NordrheinWestfalen
bezahlt die Vermittlung und Qualifi
zierung von Studierenden als »Lern
begleiter«. Hessen finanziert unter
anderem ein RobotikProgramm von
Lego. Niedersachsen bezuschusst Co
ronaSchutzausstattung für Schulen
gleich mit 20 Millionen Euro – das ist
doppelt so viel, wie das benachbarte
Bremen insgesamt an Bundesmitteln
eingesetzt hat. Thüringen steckt
1,3 Millionen Euro in »Aufenthalte in
Schullandheimen«. Ganz anders geht
BadenWürttemberg vor und setzt mit
dem »Rückenwind«Programm einen
Schwerpunkt. 119 Millionen Euro je
Schuljahr fließen in Förderstunden für
Kinder, die zuvor über Lernstands
erhebungen als Risikogruppe identi
fiziert worden sind. Sogenannte Päd
agogische Assistenten unterstützen
die Lehrkräfte.
Manchmal können Maßnahmen
die Leistungsunterschiede noch ver
größern. Einer der größten Posten im
Budget von Sachsen, 5,6 Millionen
Euro, fließt an Privatschulen – also
eher an Kinder und Jugendliche, die
im Schnitt vergleichsweise gut durch
die Pandemie kamen.
Das dritte Problem: Es fehlen die
Fachkräfte. Um zusätzliche Stunden
anbieten zu können, braucht es zu
sätzliches Personal. »Gerade ostdeut
sche Bundesländer wie Thüringen
und SachsenAnhalt, die ohnehin
überproportional vom Fachkräfte
mangel betroffen sind, werden hier
Schwierigkeiten haben«, sagt Bil
dungsforscher Helbig. Andere Länder
schicken Studierende (Sachsen, Nord
rheinWestfalen), Pensionäre (Schles
wigHolstein) oder Bundesfreiwil
ligendienstler (Saarland) in die Schu
len. BadenWürttemberg heuert
au ßerdem betriebliche Ausbilder,
Erzieherinnen und andere Menschen
mit »pädagogischen Qualifikationen
oder Vorerfahrungen« an.
Das vierte Problem: Der Erfolg
wird nach jetzigem Stand nicht kon
trolliert, ein Misserfolg bliebe somit
unentdeckt. »Wir werden wohl nie
mals wissen, was dieses Aufholpro
gramm gebracht hat«, sagt Marcel
Helbig. Wenn vorher nicht systema
tisch und flächendeckend erhoben
wurde, wo die Lernlücken liegen,
könne man hinterher auch nicht fest
stellen, ob diese Lücken kleiner ge
worden sind.
Im Herbst 2021 wurden die Viert
klässler im Rahmen des IQBLänder
vergleichs getestet. Man könnte
dieselben Kinder in zwei Jahren er
neut testen und dadurch mehr erfah
ren – aber das ist bisher nicht geplant.
Miriam Olbrisch n
Wer Lücken
nicht kon
trolliert, weiß
nicht, ob
sie kleiner
werden.
Viel Geld, wenig Plan
ANALYSE Der Bund will zwei Milliarden Euro ausgeben, um Kinder mit Lernlücken
nach der Pandemie zu unterstützen. Doch die Hilfe kommt nicht in Gang.
Sechstklässlerinnen
am Gymnasium:
Verloren im Klein-Klein
Christian Charisius / picture alliance / dpa