DEUTSCHLAND
44 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
steigt auf das Klettergerüst, saust über
die Hängebrücke, schaukelt eine Run-
de. »Ich fliege«, ruft Nena. »Mach mal
ein bisschen langsamer, sonst hast du
heute Abend Schmerzen«, ruft Just.
Nenas Muskeln sind schwach, über
den Tag verteilt muss sie Medikamen-
te einnehmen, bei längeren Strecken
im Rollstuhl sitzen. Trotzdem hatte
Nena vor dem Ausbruch der Pande-
mie ein normales Leben. Sie besuch-
te eine Regelschule, traf Freunde, ging
einkaufen. Seit Beginn der Pandemie
lebt Nena mit ihrer Familie praktisch
im Dauer-Lockdown.
Sie lernt allein in ihrem Zimmer,
nimmt am Unterricht einer Fern-
schule teil. Seit Monaten war sie in
keinem Geschäft mehr, ihre beste
Freundin trifft Nena per Videochat,
so erzählt es die Mutter. Den letzten
Geburtstag habe Nena nur mit der
Familie gefeiert. Wann sie zuletzt mit
Schulfreundinnen gespielt hat? »Das
ist lange her«, sagt Nena. »Ich ver-
misse sie.«
Ein schwerer Coronaverlauf bei
Kindern ist selten. Insgesamt sind
dem Robert Koch-Institut zufolge bis-
her 39 Kinder unter zehn Jahren nach
einer Coronainfektion verstorben
und 40 Jugendliche und junge Er-
wachsene, die jünger als 20 Jahre wa-
ren. Vorerkrankte Kinder sind beson-
ders gefährdet. Die Deutsche Gesell-
schaft für Pädiatrische Infektiologie
hat Daten von mehr als 5400 statio-
när behandelten Kinder und Jugend-
lichen in Deutschland ausgewertet:
Etwa 3,4 Prozent von ihnen mussten
auf einer Intensivstation behandelt
werden. Fast drei Viertel dieser Pa-
tienten hatten Begleiterkrankungen.
Diese betrafen vor allem das Nerven-
system, den Stoffwechsel oder die
Lunge.
Bundesgesundheitsminister Karl
Lauterbach bezeichnete das neue
Infektionsschutzgesetz im März als
»schweren Kompromiss«. Eine Mas-
ke im Supermarkt und in anderen
Geschäften zu tragen ist seither frei-
willig, wenn nicht die Länder eine
Hotspot-Regelung erlassen. Der
Schutz der Schwachen wurde aufge-
weicht zugunsten der Freiheit der
Masse. »Ich bin müde, ständig um das
Bewusstsein werben zu müssen, dass
eine Infektion für meine Tochter
lebensbedrohlich sein kann«, sagt
Jasmin Just. »Ich glaube, wir sind der
Politik einfach egal.«
Sollte sich Nena infizieren, hat ihr
Immunsystem dem Virus nur wenig
entgegenzusetzen. Die Impfung er-
zielt bei ihr nicht die gewünschte
Wirkung. Wer wie Nena mit einem
Spenderorgan lebt, nimmt Medika-
mente ein, die das Immunsystem
unterdrücken. Das ist notwendig,
damit der Körper das Organ nicht
abstößt. Auch Krebspatienten, die
eine Chemotherapie durchlaufen,
haben ein geschwächtes Immunsys-
tem. Die Medikamente fahren das
Immunsystem herunter, was dazu
führen kann, dass sich auch nach
mehrfachen Impfungen keine oder
nur wenige Antikörper oder T-Zellen
bilden, die das Virus bei einer Infek-
tion bekämpfen.
»Bei Transplantierten schlägt die
Impfung sehr viel schwächer an –
oder eben gar nicht«, sagt Martina
Sester, Professorin für Immunologie
an der Universität des Saarlandes. In
einer Untersuchung fand die Wis-
senschaftlerin heraus, dass nach
zwei Impfungen nur etwa jeder drit-
te Organtransplantierte Antikörper
bildet.
V
or Kurzem sei wieder so ein
Abend gewesen, da hätte sie
am liebsten geheult, sagt Jas-
min Just. Sie habe am Bett ihrer Toch-
ter gesessen, es war Schlafenszeit.
Nena fragte, ob sie schuld daran sei,
dass sich die Familie isolieren müsse.
»Wäre es dann nicht besser, es gäbe
mich nicht?«, fragte Nena. Just nahm
ihre Tochter in den Arm.
Nena ist elf Jahre alt, lebt mit einer
Spenderniere, hat eine verkleinerte
Lunge und leidet an einer Muskel-
erkrankung. Just nahm Nena wenige
Monate nach deren Geburt als Pflege-
tochter auf. Seither hat die Familie
viele schwere Zeiten durchstanden,
aber sich nie zuvor so einsam gefühlt
wie seit dem Ausbruch der Pandemie.
Für Risikopatienten wie Nena ist
die Hoffnung auf Normalität in weite
Ferne gerückt. Die Lockerungen der
Coronamaßnahmen bedeuten für
Vorerkrankte: noch mehr Isolation.
Nicht nur ältere Menschen über 60
sind gefährdet, sondern auch Kinder
und junge Erwachsene, die mit einem
Spenderorgan leben, an akuter Leu-
kämie erkrankt sind oder bestimmte
Vorerkrankungen der Lunge oder des
Herzens haben. Sollte Nena sich mit
Corona infizieren, droht ein fataler
Verlauf. So steht es in der ärztlichen
Bescheinigung, die dem SPIEGEL vor-
liegt.
In sozialen Netzwerken machen
Betroffene als »Schattenfamilien« auf
sich aufmerksam. Sie fühlen sich aus-
gebrannt, vergessen und hoffnungs-
los. »Alle sind genervt von der Pan-
demie«, sagt Jasmin Just, niemand
wolle »diesen Mist«.
Die Mutter schiebt den Rollstuhl
in den Schatten der Bäume neben
eine Bank. An diesem warmen April-
tag ist der Spielplatz leer. »Super«,
sagt Just. Seit Monaten darf Nena
nur noch allein draußen spielen. Das
Risiko, sich bei anderen Kindern
anzustecken, ist zu hoch. »Wir leben
in einer Parallelwelt«, sagt Jasmin
Just.
Nena steigt aus ihrem Rollstuhl
und läuft durch den Sand. Ihre silber-
nen Schuhe glitzern in der Sonne. Sie
Die Vergessenen
PANDEMIE Der Wegfall der Maskenpflicht belastet Familien mit vorerkrankten Kindern.
Die Freiheit der anderen bedeutet für sie: noch mehr Isolation.
Mutter Just:
Im Dauer-Lockdown
Marvin Menné / DER SPIEGEL