REPORTER
56 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
russischen Debatten über westliche
Dekadenz und Sitten »etwas mehr
männliche Gelassenheit«. Wiktor
Subkow, der russische Vorsitzende,
wirkte, als hätte er vorher ein paar
Wodka getrunken, um die Rede durch-
zustehen. Im Publikum schlief Mar-
kus Meckel, der vorletzte Außenmi-
nister der DDR.
Beim Dialog 2019 in Bonn erklär-
te Außenminister Sergej Lawrow den
Delegierten, dass Russland die Men-
schen auf der Krim durch seine An-
nexion nur beschützen wollte. Drei
der sieben Vorstände der deutschen
Dialogseite standen inzwischen auf
der schwarzen Liste des russischen
Justizministeriums. Die für 2020 ge-
plante Sitzung in Kaliningrad wurde
wegen Corona abgesagt.
Im Herbst 2021 gab es im Berliner
Hotel Adlon noch eine Auszeich-
nungsveranstaltung für Lothar de
Maizière, einen Sonderpreis für »he-
rausragende Partnerschaftsarbeit
zwischen Russland und Deutsch-
land«. Die Laudatio hielt Ronald
Pofalla, sie klang, als wäre sie unter
Qualen entstanden. Am Ende presste
er den Ukrainekonflikt hinein, das
Verbot von deutschen Organisatio-
nen, den repressiven Umgang der
russischen Führung mit der Opposi-
tion. Als Pofalla fertig war, ging Sub-
kow ans Mikrofon, um seine Version
zu er zählen.
Es sei von Anfang an Putins Plan
gewesen, dem deutschen Partner sei-
ne Bedingungen aufzuzwingen, sagt
Gräfin Lambsdorff heute. Die Frage
ist, was der deutsche Plan war.
Am 15. Februar 2022 flog Olaf
Scholz als Bundeskanzler nach Mos-
kau, um den Krieg zu verhindern. Sie
setzten ihn an den langen, weißen
Tisch, wie damals in Sankt Petersburg
ließ sich Scholz nicht aus dem Kon-
zept bringen. Am Ende machte er
wieder einen kleinen Witz unter
Männern, die scheinbar ewig wäh-
rende Amtszeit Putins betreffend.
Der Präsident lächelte sanft und zog
seine Truppen an der Grenze zur
Ukraine weiter zusammen.
Sechs Tage später folgte Ronald
Pofalla. Er traf den Vizeaußenminis-
ter Wladimir Titow, zweieinhalb
Stunden redeten sie über alle mögli-
chen Konsequenzen eines russischen
Angriffs. Währenddessen kam immer
mal jemand ins Zimmer und reichte
Titow Zettel. Am Nachmittag um halb
drei verließ Pofalla das Gästehaus des
Außenministeriums, am Abend hatte
Russland die Separatistenrepubliken
im Osten der Ukraine völkerrechtlich
anerkannt. Die Russen hatten sich den
Deutschen bestellt wie eine Pizza.
Drei Tage später begann der Krieg.
Der Dialog war jetzt vorbei. Pofalla
schickt nicht mal mehr eine SMS an
seine russischen Partner, weil er nicht
weiß, wo die landet. Er wolle nieman-
den in Gefahr bringen, sagt er. Die
Deutschen befinden sich jetzt ganz
allein in der Paartherapie.
Pofalla sitzt in der Turmspitze der
Deutschen Bahn, der Blick geht über
Berlin. Man kann sich vorstellen, wie
am Horizont eine russische Rakete
auftaucht. Pofalla raucht. Man fragt
sich, warum er so an dem Projekt
hängt.
Pofalla sagt, er sei bestimmt 150-
mal in Russland gewesen. Das erste
Mal reiste er 1977 mit seinem Vater,
der als Wehrmachtssoldat in sowjeti-
sche Gefangenschaft geriet, nach Mos-
kau. Sein Vater hatte ihm oft erzählt,
wie offen man ihm als Deutschen in
Sibirien begegnet sei. Das habe ihn
geprägt. Viele Deutsche brachte offen-
bar eine alte Geschichte zum Peters-
burger Dialog. Gerhard Schröders
Vater fiel während der ostkarpati-
schen Operation der Roten Armee in
Rumänien. Der ehemalige »Bild«-
Chefredakteur und Regierungs-
sprecher Peter Boenisch hatte eine
russische Mutter, eine Jüdin aus Odes-
sa. Alexandra Gräfin Lambsdorffs
Schwiegervater war Kadett am Zaren-
hof in Sankt Petersburg. Antje Voll-
mer wurde im Zweiten Weltkrieg ge-
boren. Johann Michael Möller, eben-
falls Vorstandsmitglied, ist Sohn des
Schriftstellers Eberhard Wolfgang
Möller, der von Joseph Goebbels einst
Sprachgenie genannt wurde.
Möller, der als Journalist bei der
»FAZ« und beim MDR gearbeitet hat,
betreut »Karenina«, das Onlineportal
des Petersburger Dialogs. Möller
nennt ihn einmal ein »schwarzes
Loch, in das wir hineinrufen«, einmal
ein »Gefäß, das ich bereitstelle« und
einmal »ein kleines Fenster, das wir
aufgemacht haben«.
Die Worte klingen, als trüge er sie
schon eine Weile mit sich herum. Er
erzählt von den Grundwidersprü-
chen, »die Pofalla elegant wegmode-
rierte«, sowie »dem Rucksack der
Verantwortung«, den Matthias Plat-
zeck sofort abwarf, als es heiß wurde.
Möller sitzt an einem Tisch im alten
Café Einstein in der Kurfürstenstraße,
es klingt wie ein Nachruf, den er da
spricht. Am Nebentisch sitzt, gut ge-
launt, der ehemalige Regierungsspre-
cher Steffen Seibert, der bald Bot-
schafter in Israel wird. Seine deutsche
Reise geht weiter.
Am Wochenende tauchen Bilder
von Leichen Hunderter ukrainischer
Zivilisten in den Straßen Butschas auf.
Die Nachrichten aus dem Autoradio
klingen grausam, während man sich
auf der Ernst-Thälmann-Straße dem
Brandenburger Wochenendhaus von
Lothar de Maizière nähert. Es ist
Montagmorgen, die Wolken hängen
tief, das Haus steht am See.
De Maizière verbringt die meiste
Zeit hier draußen. Er hat seine Brat-
sche, seine Bücher, im Garten steht
ein Abguss eines Reliefs vom Bran-
denburger Tor. De Maizière ist heute
der Ehrenvorsitzende des Petersbur-
ger Dialogs.
»Es war unwürdig«, sagt die Frau
des Ehrenvorsitzenden über die
Preisverleihung im Adlon, bei der
sich Subkow und Pofalla über den
Zustand des Petersburger Dialogs
stritten. »Lothar hat in seiner Replik
gesagt: ›Ich bin wütend über das, was
ich gehört habe.‹«
Angela
Merkel hat
sich da
nichts vor-
zuwerfen.
Ronald
Pofalla,
Vorsitzender
des Petersburger
Dialogs
»
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Hannes Jung / DER SPIEGEL