Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
REPORTER

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 59

I


n zwei Tagen fliege ich nach Bra-
silien. Ich habe die Tickets ge-
kauft und ausgedruckt. Sie liegen
vor mir auf dem Schreibtisch. Meine
Frau packt bereits ihren Koffer und
kauft Unmengen »Atrix« für die Fa-
milie. Ja, Atrix. Eine gewöhnliche
deutsche Handcreme. Allein das Wort
»Handcreme« klingt schon wunder-
bar angemufft. Aber nicht für die
geliebte Verwandtschaft in Brasili en.
Meine Frau sagt, zuerst habe nur ihre
Oma Atrix bestellt. Mit den Jahren
brach dann das Atrix-Fieber in der
ganzen Familie aus. Mittlerweile gilt
Atrix als eine Art Wundermittel aus
Deutschland, das gegen alles hilft.
Sonnenbrand? Hautentzündungen?
Warzen? Nimm Atrix! Herpes? Loch
im Kopf? Nimm Atrix! Es ist ein biss-
chen wie in dem Film »My Big Fat
Greek Wedding«, wo der griechische
Vater gern jedes Leiden mit Fenster-
putzmitteln behandelt.
Wenn Atrix nun schon gekauft ist,
dann fliegen wir also wirklich, oder?
Drei Jahre lang hat meine Frau ihre
Familie nicht gesehen. Vor zwei Jah-
ren, im Frühjahr 2020, kam das Virus
nach Deutschland, und wir verscho-
ben damals unsere Reise auf den
Herbst. Dann auf das Frühjahr 2021.
Dann wieder auf den Herbst. Jetzt,
im Frühjahr 2022, bin ich noch immer
im Corona-verschiebe-Modus. Ge-
fühlsmäßig ist es ganz ähnlich wie
1989 kurz nach der Maueröffnung,
als ich am Grenzübergang nach West-
Berlin stand und dachte: Morgen ist
alles wieder zu. Heute denke ich:
Gleich springt Karl Lauterbach hinter
einem Busch hervor, stellt sich vor
das Flugzeug und ruft: Stopp! Lock-
down! Die fünfte Welle kommt! Oder
die sechste?
Überhaupt: eine Fernreise. 15 Stun-
den eng an eng in einem Flugzeug
sitzen, Economyclass, und um die
halbe Welt reisen. Wie geht das noch
mal? Warum macht man das über-
haupt? Ich fühle mich nicht mehr sehr
polyglott. Ich fühle mich streng regio-
nal. Die letzten Jahre bin ich
reisemäßig kaum über Brandenburg

hinausgekommen. Ich habe das Leben
eines Rentners geführt, dem die Fer-
ne abhandengekommen war, immer
die strengen Politikermahnungen im
Ohr: Bürger, bleib zu Hause! Denk
an die Volksgesundheit! Selbst Meck-
lenburg-Vorpommern war ja zeitwei-
se abgeriegelt und unerreichbar wie
der Mond.
Im Prinzip könnte nun alles wieder
so sein wie früher. In den guten alten
Vor-Corona-Reisejahren. Das habe ich
immer gedacht, immer gehofft. Die Kri-
se geht vorbei, und man macht einfach
dort weiter, wo man aufgehört hatte.
Aber die Krise ging nicht vorbei, sie wur-
de nur von einer größeren geschluckt.
Früher war es zum Beispiel so:
Meine Frau und ich waren die Ver-
wandten aus dem sicheren, fried-
lichen Deutschland, die ins schöne,
aber gefährliche Brasilien reisten. In
den Moloch São Paulo. Waren wir
abends in der Stadt unterwegs, mach-
ten sich die Verwandten stets Sorgen,
warnten vor Gegenden, die wir besser
nicht betreten sollten, und entschul-
digten sich für die Kriminalität und
die Korruption im Land.
Und heute? Rufen die Verwandten
bei uns in Alemanha an und fragen:

Ist es noch sicher bei euch? Kommt
bald der Krieg? Was ist mit den Atom-
waffen? Für ein riesiges Land wie
Brasilien ist Deutschland winzig,
Kiew und Moskau liegen quasi gleich
um die Ecke, nur zwei Straßen ent-
fernt von unserer Wohnung in Berlin.
»Wollt ihr nicht lieber länger bleiben?
Bis alles vorbei ist?«, fragte eine Tan-
te meine Frau am Telefon.
Sieht fast so aus, als würde man
uns in São Paulo jetzt als eine Art
Flüchtlinge empfangen. Die armen
Verwandten aus Europa. Wer hätte
das gedacht.
Trotzdem freue ich mich von Tag
zu Tag mehr. Ich muss mal wieder
raus und weg hier, den Kopf durch-
lüften. Weg auch von der schneidigen
deutschen Debatte über den zöger-
lichen Scholz, über Panzer, Pazifisten
und »Putin-Versteher«, die zuneh-
mend in einem Ton der Häme und
Verachtung geführt wird. Dazu all die
offenen Briefe. Ende April schrieben
die ersten Intellektuellen einen of-
fenen Brief an Kanzler Scholz, kurz
darauf folgte der zweite, und gerade
ist der dritte erschienen. Mittlerwei-
le könnte man sagen: Es ist ein Ket-
tenbrief. Wann meldet sich auch Til
Schweiger zu Wort? Und darf man
jetzt überhaupt in den Urlaub fah-
ren? Ich meine – moralisch? Keine
Ahnung. Womöglich wird es auch
darüber bald eine deutsche Debatte
geben, und Sascha Lobo schreibt
wutdampfend über die »Lumpen-
Eskapisten«.
Ich habe wirklich Lust auf ein biss-
chen Realitätsflucht. In Brasilien fragt
mich niemand nach Putin oder
Scholz, und ich spreche ja auch gar
kein Portugiesisch. Bei der Familie in
Brasilien bin ich, mangels Sprach-
kenntnissen, nur der stille, lächelnde
Deutsche. Ich weiß nicht, ob sie mich
deswegen als leicht debil einschätzen.
Oder als sehr weise. Aber meine
Hauptaufgabe ist hier sowieso – das
Essen.
Gleich nach der Ankunft werde ich
wie ein kleiner, schweigsamer König
in einen Sessel gesetzt. Dann tritt
mehrmals am Tag jemand an meinen
Thron und fragt nach meinen Wün-
schen. Ich sage dann: Huhn! Meine
Frau übersetzt, und sofort wird ein
Huhn gegrillt. Ich sage: Caipirinha!
Innerhalb von fünf Minuten habe ich
einen Drink in der Hand. Es klingt
perfekt, klar. Aber ich darf mich auch
nie hängen lassen. Äußere ich keine
Wünsche oder sage: Ich bin satt, dann
schauen mich alle an wie einen Wahn-
sinnigen. Was hat er denn? Ist er
krank? Komm, gebt ihm Atrix!
Jochen-Martin Gutsch n

Ich fühle mich
nicht mehr
sehr polyglott.
Ich fühle
mich streng
regional.

Heute ein kleiner König


ALLES GUTSCH Warum die erste Fernreise nach zwei Jahren Pandemie
eine Art Realitätsflucht ist

Mario Wagner / DER SPIEGEL

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