Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

AUSLAND


78 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


dern sie erst entfacht und die Spaltung des
Landes vertieft.«
Doch es ist eine Sache, ein wackliges juris-
tisches Konstrukt zu kritisieren – aber eine
ganz andere, ein Grundsatzurteil zu kippen,
mit dem eine Mehrheit der US-Bürger inzwi-
schen ihren Frieden gemacht hat. Laut einer
Umfrage des Fernsehsenders CNN aus dem
Januar wollen 69 Prozent der Amerikaner an
»Roe« und damit dem Recht auf Selbstbestim-
mung festhalten. Das Urteil mag vor 50 Jahren
eine von Richtern angeordnete Zwangslibe-
ralisierung gewesen sein – heute wäre seine
Abschaffung ein Schritt in die Vergangenheit.
Dies ist nun das Problem der Republikaner.
Sie haben den Supreme Court so weit politi-
siert, dass seine Entscheidungen auch ihre sind.
Wie mulmig manchen Konservativen im Kon-
gress gerade ist, konnte man an ihrer Reaktion
auf das geleakte Urteil ablesen. Sie feierten es
nicht etwa als Schritt in ein Amerika, in dem
Abtreibungen verboten werden, sondern kri-
tisierten die Durchstecherei vielmehr als ge-
zieltes politisches Manöver der Demokraten.
Ȇber Jahre hat die radikale Linke den Su-
preme Court als Institution attackiert«, klagte
etwa Mitch McConnell, der Chef der Repu-
blikaner im Senat. Mit dem Leak habe diese
Kampagne »einen neuen Tiefpunkt« erreicht.
Für die Republikaner ist die Abtreibungs-
frage ein delikater Balanceakt. Die meisten
Funktionäre der Partei bekennen sich zum
»Recht auf Leben«, aber für viele ist das eher
Ritual als Überzeugung – was auch daran
liegt, dass es nur in wenigen Bundesstaaten
eine Mehrheit für ein Verbot von Abtreibun-
gen gibt: Louisiana, Arkansas und Alabama
im Süden gehören unter anderem dazu, aber
auch West Virginia und Utah. Es ist kein
Zufall, dass gerade diese Staaten Gesetze vor-
bereitet oder schon in Kraft gesetzt haben,
die Abtreibungen drastisch einschränken wür-
den. In Florida dagegen, einem der bevölke-
rungsreichsten Staaten der USA, gibt es eine
Mehrheit für das Recht auf Abtreibung. Wohl
auch deshalb hat der republikanische Gou-
verneur Ron DeSantis bisher nur ein Gesetz
ausarbeiten lassen, das Abtreibungen nach
der 15. Schwangerschaftswoche ohne medi-
zinischen Grund verbietet.
In der bizarren politischen Logik Washing-
tons ist der Triumph der Konservativen im
Supreme Court ein Hoffnungsschimmer für die
Demokraten. Präsident Joe Biden steht ein hal-
bes Jahr vor der Kongresswahl mit leeren Hän-
den vor den Wählern. Seine wichtigsten Re-
formprojekte hängen im Senat fest oder sind
in Verruf geraten, weil sie geholfen haben, die
Inflation zuletzt auf spektakuläre 7,5 Prozent
hochzutreiben. Gleichzeitig erreichen die il-
legalen Übertritte an der Grenze zwischen Me-
xiko und den USA immer neue Spitzenwerte



  • ein Thema, das die Amerikaner deutlich mehr
    beschäftigt als der Krieg in der Ukraine. Und
    zu allem Überfluss ist die US-Wirtschaft im
    ersten Quartal ins Minus gerutscht. Zuletzt
    machte Biden oft einen so resignierten Ein-
    druck, als hätte er die Wahlen im November


schon aufgegeben, bei denen sämtliche Abge-
ordneten des Repräsentantenhauses und ein
Drittel der Senatoren neu gewählt werden.
Das geleakte Urteil hat die Demokraten
nun mit neuer Energie versorgt. Am Mittwoch
stellte sich Biden in den Roosevelt Room des
Weißen Hauses und sagte, Trumps MAGA-
Bewegung sei die »radikalste politische Kraft
der jüngeren Geschichte«. Er malte eine düs-
tere Zukunft, in der Transkinder aus Klassen-
zimmern verbannt werden. Aber ist das plau-
sibel? Alito hat in seinem Entwurf klargestellt,
dass er weder das Grundsatzurteil für die Ehe
von Schwulen und Lesben antasten werde
noch eine Entscheidung des Gerichts über
den Verkauf von Verhütungsmitteln.
Dennoch dürften die Worte des Präsiden-
ten ihre Wirkung nicht verfehlen. »Abortion
forever«, schallt es am Dienstag durch die
Innenstadt von Houston. 500 Demonstranten
haben sich dort versammelt, auch Kara Hagen,
die mit ihrer Tochter gekommen ist. »Sie ist
19, ich will, dass sie die Freiheit hat, selbst-
bestimmt zu handeln«, sagt Hagen. »Ich habe
mich schon als Teenager für Frauenrechte
starkgemacht. Ich dachte, wir wären damit
durch und Roe in der Rechtsprechung ein und
für allemal verankert. Plötzlich fängt der
Kampf wieder von vorne an.«
Texas ist derzeit der einzige US-Bundes-
staat, in dem Abtreibungen faktisch schon

weitgehend verboten sind. Im vergangenen
Jahr hat der republikanische Gouverneur
Greg Abbott ein Gesetz unterzeichnet, das
Abbrüche nur noch bei Embryonen erlaubt,
bei denen noch kein Herzschlag festgestellt
werden kann – was in der Regel ab der sechs-
ten Schwangerschaftswoche geschieht. Viele
Frauen haben zu diesem Zeitpunkt noch nicht
einmal bemerkt, dass sie ein Kind erwarten.
Und wenn sie es feststellen, heißt das noch
lange nicht, dass eine Abtreibung gelingt.
Am Mittwochmorgen sitzt Karina Aguirre
vor der Houston Women’s Clinic unter einem
Sonnenschirm und versucht, wieder Boden
unter den Füßen zu bekommen. »Ich muss
jetzt erst einmal meine Gedanken sortieren«,
sagt sie. Aguirre hat eigentlich alles richtig
gemacht, selbst nach den strengen Kriterien
der texanischen Gesetze: Die 23-Jährige
arbeitet in einem Lagerhaus von Amazon und
hat schon zwei Kinder. Als sie mit einem drit-
ten schwanger wurde, meldete sie sich bei der
Houston Women’s Clinic. Am Montag hatte
sie ihren ersten Beratungstermin, eigentlich
schien alles klarzugehen: Der Herzschlag des
Kindes war noch nicht zu hören. Aber einen
Tag später war er da, was für Aguirre bedeu-
tet, dass sie in Texas – einem Bundesstaat,
dessen Fläche fast doppelt so groß ist wie die
der Bundesrepublik – keine Abtreibung be-
kommen wird. »Ich weiß noch nicht, wie es
weitergeht«, sagt sie. »Ich könnte in einen
anderen Staat fahren. Wenn man einmal den
Herzschlag gehört hat, macht es die Entschei-
dung aber nicht einfacher.«
Unter normalen Umständen hätte der
Supreme Court die texanische »Heartbeat
Bill« sofort kassieren müssen, als sie im Sep-
tember 2021 in Kraft trat. Sie steht im ekla-
tanten Widerspruch zu »Roe«. Dass sich die
konservative Mehrheit am Gericht weigerte,
über das Gesetz zu beraten, galt damals schon
als Indiz dafür, dass »Roe« bald fallen könn-
te. John Roberts, der oberste Richter am
Supreme Court, schrieb in einem Minder-
heitenvotum, es sei das Ziel des texanischen
Gesetzes, die Rechtsprechung des obersten
Gerichts zu untergraben: »Nichts weniger als
die Rolle des Supreme Court im Gefüge der
Verfassung steht auf dem Spiel.«
Es war ein flehentlicher Aufruf an die neu-
en Kollegen, sich der Verantwortung des Am-
tes zu stellen. Roberts war immer ein Kon-
servativer, aber in seiner fast 20-jährigen
Amtszeit sorgte er sich mehr um das Ansehen
des Gerichts als um seine politischen Über-
zeugungen. Angeblich hat Roberts hinter den
Kulissen versucht, einen Kompromiss zu
schmieden, der das Recht auf Abtreibung auf
die ersten 15 Schwangerschaftswochen be-
grenzt, aber »Roe« nicht vollkommen elimi-
niert. Es wäre ein gangbarer Mittelweg ge-
wesen; eine Lösung, die das Land nicht weiter
entflammt hätte. Aber im Moment sieht es so
aus, als hätte Trump, der große Spalter, auch
die letzte intakte Institution der USA mit
Zwietracht infiziert.
Gabrielle Hauth, René Pfister, Daniel C. Schmidt n

Rechtsdrall


Politische Ausrichtung der aktuellen Richter*
am Obersten Gerichtshof der USA

* Martin-Quinn-Punktzahl; ermittelt durch die Abstimmungs-
ergebnisse im Gerichtsjahr 2020 (ab Oktober)
S◆Quelle: Andrew D. Martin, Kevin M. Quinn

Sotomayor
Breyer
Kagan
Roberts
Kavanaugh
Barrett
Gorsuch
Alito
Thomas

−‹ −Œ  Œ ‹
liberal konservativ

von
Republikanern
nominiert
von
Demokraten
nominiert

Patientin Aguirre

Annie Mulligan / DER SPIEGEL
Free download pdf