AUSLAND
84 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
offenbar schwieriger. Den Namen des Nach
barn vermeidet auch Kuusela. Auch er will
offenbar den Bären nicht reizen.
Im Verteidigungsministerium überlegt man
sich bereits Szenarien, wie Moskau auf einen
Beitrittsantrag reagieren könnte. Viele Reak
tionen seien denkbar, heißt es. Schon 2015
habe Russland Migranten über die Grenze
geschickt. In den vergangenen Wochen re
gistrierten die finnischen Behörden eine zu
nehmende Zahl von Cyberangriffen. Grund
sätzlich wolle er nichts ausschließen, sagt
Kuusela, nicht einmal den Einsatz taktischer
Atomwaffen seitens Moskaus. »Aber wir ge
hen bislang nicht davon aus, dass das passiert.
Der Beitritt ist immer noch unsere souveräne
Entscheidung.«
Wer verstehen will, wie die Nachbarschaft
zu Russland die Finnen geprägt hat, kann
nach Imatra fahren, einer unscheinbaren
26 000EinwohnerStadt im Südosten des
Landes. Von der Innenstadt bis zur Grenze
sind es keine zehn Kilometer.
Vor dem Zweiten Weltkrieg waren die fin
nischen Gebiete in Karelien, wo auch Imatra
liegt, noch weitaus größer als heute. Im Krieg
kämpften die Finnen hier erbittert gegen die
Sowjets, auch mit Unterstützung der Nazis.
Danach diktierte Stalin den Finnen einen
neuen Grenzverlauf. Seitdem ist der Ort so
etwas wie ein Außenposten.
Wenn es einen Ort gab, an dem sich Finnen
und Russen regelmäßig begegneten, dann
hier. Bis vor wenigen Wochen lebte Imatra
vor allem von russischen Touristen. Noch
immer verweisen kyrillische Schilder in der
öffentlichen Sauna auf Gäste, die nicht mehr
kommen. Drinnen ist es so leer wie am Grenz
übergang. Bei der finnischen Eisenbahn ste
hen inzwischen 300 Jobs im Güterverkehr
zur Disposition. Praktisch über Nacht ist ein
neuer eiserner Vorhang entstanden.
Die direkte Nähe zu Russland unterschei
det Finnen und die anderen nordischen Län
der, das Trauma des Krieges prägt das Land
bis heute. Plötzlich ist es wieder präsent. Statt
um Wirtschaft geht es wieder um Sicherheit.
In der Kaserne von Imatra werden inzwi
schen Grenzschützer ausgebildet. An fast
jeder Wand hängen meterhohe Karten, die
daran erinnern, dass die Finnen große Gebie
te Kareliens nicht freiwillig abgetreten haben.
Ehrentafeln gedenken der Gefallenen von
einst. Auf dem Gelände hinter der Kaserne hat
das Militär einen Grenzstreifen zu Übungs
zwecken errichtet. Seit 2014, sagt ein Aus
bilder, habe man die Trainingspläne umge
stellt. Der Grenzschutz sei jetzt enger mit dem
Militär verknüpft.
»Als Mensch bin ich schon besorgt«, sagt
einer der angehenden Grenzschützer. Die
anderen nicken. »Aber wir sind das einzige
Nachbarland Russlands in Europa, das frei
und nicht in der Nato ist. Die anderen beiden
sind Belarus und die Ukraine. Wir können
nicht länger ausharren.«
Wie lange sein Land nun bereits ausharrt,
weiß Veli Merentie nur zu gut. Er hat noch
als Soldat erlebt, was passiert, wenn der Bär
von der anderen Seite der Grenze angreift.
Mit 98 Jahren ist er der letzte noch lebende
Veteran von Imatra. Auch im restlichen Land
gibt es nicht mehr viele wie ihn. Die Soldaten
waren jahrzehntelang so etwas wie Volks
helden. Museen, Bücher und Zeitschriften
hielten ihre Erfahrungen im kollektiven Ge
dächtnis, ihre Kriegsgeschichten prägten den
Blick über die Grenze. Jetzt sind die meisten
von ihnen verstummt.
Solange er es noch kann, will Merentie
deshalb erzählen. Wer ihm zuhört, versteht,
wie sehr die russischen Demütigungen den
Eigensinn der Finnen angestachelt haben und
wie groß der Wunsch nach Selbstbestimmung
immer blieb.
»Ich war auf vielen Beerdigungen in mei
nem Leben«, sagt Merentie. Er hat kleine run
de Augen, silberblondes Haar und einen zarten
Händedruck. Seine Frau starb 2004, trotz sei
nes Alters lebt er noch immer allein. Neben
der Lokalzeitung liegt das Seniorenhandy.
Merentie sagt, er fühle sich fit. Er hat 6 Enkel
und 14 Großenkel. Seine Tochter, selbst über
siebzig, hilft ihm täglich. Nur den Fernseh sessel
nutze er nicht mehr. Sein ganzes Leben habe
er im Grenzgebiet verbracht, nach dem Krieg
wurde er Holzfäller.
Eigentlich sollte er gar kein Soldat werden.
Seine beiden Brüder, der eine 26, der andere
24, waren bereits 1940 im Gefecht gefallen.
Kurz darauf starb die Mutter. »Aber die Not
war so groß«, sagt Merentie. Also zog auch
er 1944 in den Krieg. Gleich in den ersten
Monaten bekam er die Verantwortung für
sieben Mann. Da war er 19.
Ihre Aufgabe sei es gewesen, sowjetische
Partisanen aufzuspüren, die gezielt die Zivil
bevölkerung terrorisierten, sagt Merentie.
Während Mittsommer, wenn die Sonne kaum
untergeht, seien sie durch die Kiefernwälder
gezogen, um schlafende Feinde zu entdecken.
Einmal seien sie auf einen Russen gestoßen,
der in Panik gleich das Feuer eröffnete. Me
rentie erinnert sich nicht, wer es erwiderte.
Vielleicht will er es mit 98 auch nicht. Er
weiß nur, was mit dem Kämpfer geschah.
»Piff«, sagt er und tippt sich auf die Stirn.
Kopfschuss. Die anderen Russen konnten ent
kommen.
Später habe man ihn als Boten zwischen
den Fronten eingesetzt, da sei die Angst im
mer mitgerannt. Und doch, sagt er, habe er
es gern gemacht. »Wir Finnen sind störrisch
und zäh. Darauf bin ich stolz.«
Der 98Jährige spricht konzentriert, erst
nach knapp zwei Stunden lassen seine Kräfte
nach, und es ist nicht immer klar, was er erlebt
oder was er nur gehört hat. In seinen Erzäh
lungen zeigt sich jetzt, wie eigene Erfahrun
gen und nationaler Mythos längst ineinander
fließen. Nach fast 80 Jahren scheint beides
kaum noch voneinander trennbar. Bald wer
den die Erinnerungen ganz verschwinden.
Wenn er heute fernsehe, erlebe er einen
neuartigen Krieg, sagt Merentie nachdenk
lich. »Wir waren im Wald. Wir haben die Rus
sen fast nie gesehen. Das war anders als in
der Ukraine, wir hatten nie Stadtkampf. Zum
Glück. Denn das ist das Schlimmste.«
Und doch, sagt Merentie zum Abschied,
erkenne er dieselben Motive, damals wie heu
te. »Die Russen haben die Finnen und ihre
Nachbarn schon immer belogen. Wenn wir
es heute können, sollten wir auf jeden Fall in
die Nato.«
Das Misstrauen teilt der Veteran mit seinem
Land. Bis heute sind die Finnen bestens auf
den Krieg vorbereitet, dem Frieden in Europa
haben sie trotz EUBeitritts und Wohlstands
nie ganz getraut. Im Ernstfall sollen allein
in der Hauptstadt Helsinki 900 000 Men
schen Zuflucht in Bunkern finden können.
Tomi Rask, 53, und seine Kollegen vom Zi
vilschutzamt halten sie in Schuss. Im All
tag werden die ins Granitgestein gebohr
ten Schutzräume als Eishockeyfelder oder
Schwimmbäder genutzt. In Reiseführern
tauchen sie als skurrile Attraktion auf. Nun
rücken die Bilder aus der Ukraine vor Augen,
was mit DualUseBunkern einmal gemeint
war: Tiefgaragen, die im Ernstfall zu Schutz
räumen werden.
Rask führt durch den Eingang des Meri
hakaSportkomplexes im Zentrum. Bei der
Einfahrt in die Tiefgarage passieren die Be
sucher zwei dunkelgrüne Stahltüren, beide
sechs mal vier Meter. »Im Ernstfall«, sagt
Rask, »schützt die erste vor Druckwellen und
die zweite vor Kampfgas.«
Hinter einer weiteren Tür liegt ein Raum,
der nicht fotografiert werden darf. In ihm
befinden sich 20 hüfthohe Tanks, die im
Kriegsfall die Luft für 6000 Menschen reini
gen. 99 Prozent aller Kampfstoffe sollen sich
damit filtern lassen.
Im ganzen Land sind für größere Wohn
häuser Schutzräume verpflichtend. In und um
Helsinki gibt es zusätzlich Großbunker. Es
soll für alle reichen. Doch Komfort ist nicht
vorgesehen. »Pro Person planen wir mit
weniger als einem Quadratmeter«, sagt Rask.
Sollte die Anlage einmal gebraucht werden,
müssten die Schutzsuchenden in Schichten
schlafen und ihre Notdurft hinter dünnen Vor
hängen in 320 Plastikeimern verrichten. Die
Markierungen dafür sind bereits auf den Bo
den gemalt.
Auch Valtteri Lindholm hat seine Notfall
pläne aktualisiert. Kürzlich, sagt er, hätten er
und sein Team errechnet, wie viele Kollegen
kurzfristig fehlen würden, wenn das Militär
seine Reservisten einziehen sollte. Das Er
gebnis sei eindeutig. »Wir müssten schließen.
90 Prozent der Jungs sind kampfbereit.«
»Ich bin froh, dass wir
nicht so wie Deutschland
geworden sind.«
Valtteri Lindholm, Start-up-Gründer Jan Petter n