FOCUS - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
LEBEN

F


ünfhundert Meter Sprint berg-
auf, bis zu 32 Prozent Stei-
gung, im Schnitt 14,3 Prozent.
Das Stilfser Joch hat durch-
schnittlich acht – klingt, als
hätte Red Bull sein Bike-Event
„Hill Chasers“ am 28. Mai in
Gelnhausen eigens für den Gipfelstürmer
Anton Palzer erfunden. Dabei gab es die
wilde Berghatz schon vor zehn Jahren.
Da war Palzer gerade Junioren-Europa-
meister, im Jahr darauf Weltmeister gewor-
den, vier Jahre bei den Junioren unge-
schlagen geblieben – nicht auf dem Rad,
sondern als Skibergsteiger. Vor einem Jahr
ist der schmale 29-Jährige (62 Kilo auf
1,78 Meter) aufs Rennrad umgestiegen,
aber Profi geblieben: beim einzigen deut-
schen Weltklasse-Rennstall Bora-Hans -
grohe. Vergangenen Sonntag beendete er
die Tour de Romandie auf Rang 41. Alexan-
der Wlassow gewann für Bora-Hansgrohe
die Rundfahrt, auch dank Helfer Palzer.
Keine schlechte Bilanz für einen Querein-
steiger, der auf den Fotos seiner Website
immer noch durch den Schnee stapft.
Der Palzer Toni und das Skibergstei-
gen, also das Klettern mit angeschnallten
Skiern und anschließender Abfahrt, 20
Jahre lang gehörte das einfach zusammen.
Aufgewachsen ist er nahe des Watzmanns,
hat als Junge alles auf Skiern ausprobiert,
sogar Skispringen, eiferte dann aber
doch dem Papa nach, der als Skibergstei-
ger im Weltcup lief. Erste Rennen bestritt
der Junior mit acht, durfte mit 16 bei den
Herren mitmachen und wurde gleich mal
deutscher Meister. Nach der Ausbildung
zum Feinwerkmechaniker wurde er Profi
und mischte die Szene auf. Verbürgt ist,
dass er daheim in der Ramsau mit Skiern
schneller auf dem Hirschkaser war als die
Hirscheck-Bahn.
Doch nach zig Weltcup-Siegen, WM-
Medaillen und rund drei Millionen Höhen-
metern auf Skiern spürte er, dass er Ver-
änderung brauchte: „Ich habe gemerkt,
dass Skibergsteigen immer mehr mein
Beruf wird. Beim Sport muss aber die Lei-
denschaft an erster Stelle stehen, um lang-
fristig erfolgreich zu sein“, sagt er. Er war
immer noch erfolgreich, aber es bedeutete
ihm nichts mehr. „Wenn ich Erster oder
Zweiter geworden bin, hat sich das nicht
anders angefühlt, als der fünfte oder 18.
Platz. Das war nicht gut.“
Als Palzer nach einem Trainer suchte,
der ihm für das Projekt „WM Skibergstei-
gen“ wieder Freude am Sommertraining
auf dem Rad vermitteln sollte, riet ihm sein

Kumpel, der Radprofi Lukas Pöstlberger,
mal Helmut Dollinger zu fragen, einen
Trainer von Bora-Hansgrohe. Teamchef
Ralph Denk gab sein Okay und trug Dol-
linger auf: „Schau mal, was der auf dem
Rad kann!“ Denk hatte den Skibergsteiger
2017 schon mal über Instagram zum Trai-
ningslager eingeladen, aber Palzer hatte
die Nachricht nicht gesehen: „Da war ich
neu auf Insta.“

Blutbild eines Herzkranken
Fasziniert hatte Palzer der Radsport
zwar schon immer, aber eine Profikar-
riere schien ihm unrealistisch: „Der Rad-
sport ist so stark verankert mit Jugend-
arbeit. Da fährst du mal Bundesliga, dann
in einem Conti-Team, vielleicht mal in
einem Pro-Conti-Team – und irgendwann
in einem World Tour Team. Das ist so lang
und hart, das schaffst du nie als Quer-
einsteiger mit 28.“
Aber das Probetraining scheint Eindruck
hinterlassen zu haben. Denk unterbreitete
Palzer ein Angebot, der überlegte ein hal-
bes Jahr lang. „Weil ich mir was Schönes
aufgebaut, gute Sponsoren an Land gezo-
gen hatte. Das wollte ich nicht mit Füßen

treten“, sagt er, „aber ich wollte mir in
zehn Jahren nicht vorwerfen müssen, es
nicht probiert zu haben. Vielleicht musste
ich mal die Komfortzone verlassen: staat-
licher Sportförderplatz, Skibergsteiger bei
der Bundeswehr auf dem Sprung zu Olym-
pia 2026.“ Freundin Sonja ermutigte ihn
sofort: „Mach das! Ein Blinder sieht, dass
du nicht mehr glücklich bist.“
Palzer sagte zu, lief im März 2021 sein
letztes Rennen auf Skiern, holte noch mal
WM-Silber, verabschiedete sich mit fünf
Kästen Bier und vielen Tränen von der
Szene – und fuhr vier Wochen später die
Tour of the Alps, fünf Tage lang durchs
Gebirge. Und noch einen Monat später die
Tour de Suisse; nach der Tour de France,
dem Giro und der Vuelta die bedeutends-
te Rundfahrt. Rückblickend sagt er: „Ich
bin schon sehr ins kalte Wasser geworfen
worden, weil das Team sehen wollte, wo
die Reise hingehen kann.“
Zehn- bis zwanzigmal am Tag ging er
an seine Belastungsgrenze, landete auf
Platz 49, fuhr noch ein paar Rennen, und
plötzlich hieß es: „Du fährst die Vuelta.“
Eine Dreiwochenrundfahrt nach nur fünf
Monaten als Radprofi! Palzer erinnert sich,

Er war einer der weltbesten


Skibergsteiger. Aber dann


brauchte Anton Palzer neue


Ziele und wurde Radprofi.


Die Geschichte einer


Grenzerfahrung


Das ewige


Auf und Ab


Runterbrettern
Palzer, 29, ist mehr-
facher Vizeweltmeister
im Skibergsteigen
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