SPD
China ist ein Land mit 1,4 Mil-
liarden Menschen, das man in
der Welt nicht einfach ignorieren
kann. Und bei aller Kritik an den
innenpolitischen Verhältnissen in
China nötigt es mir Respekt ab,
dass dieses Land in wenigen Jahr-
zehnten mehr als 800 Millionen
Menschen aus bitterster Armut
befreit hat. So wie wir uns in
Deutschland in den vergangenen
100 Jahren verändert haben, wird
sich auch China weiter ändern.
Ob es dabei eine verlässliche und
konstruktive Rolle bei der Siche-
rung des friedlichen Zusammen-
lebens auf unserem Planeten ein-
nehmen wird oder nicht, hängt
auch von unserem Umgang mit
diesem Land ab.
Sind die alten Vorstellungen von
Multilateralismus als Ordnungs-
prinzip, von institutionalisiertem
Austausch und Ausgleich der
Mächte und Interessen obsolet?
Nicht als Ideal darüber, wie
die Welt funktionieren sollte.
Aber gegenwärtig sehe ich uns
zurückgeworfen auf so eine Art
G0-Welt, wie es der amerikanische Pu-
blizist Ian Bremmer ausdrückt. Wir leben
nicht in einer UNO-Welt oder in einer
G7- oder G20-Welt, sondern in einer Welt
ohne Ordnung. Die Zeitenwende ist nicht,
dass Russland Krieg führt. Russland führt
Krieg, weil wir in dieser Zeitenwende sind:
Die alte Weltordnung wurde nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges geschaffen und
geht jetzt mit etwas Verspätung zu Ende.
Die Pax Americana und die transatlanti-
sche Dominanz gehören der Vergangen-
heit an. Und noch ist keine neue Ordnung
sichtbar, dafür aber ein Ringen darum, wie
die Welt gestaltet sein soll. Russland will
dabei wieder die Rolle einer Großmacht
einnehmen. Das ist der wahre Grund für
die Kriege, die Wladimir Putin führt.
Sie weisen gern darauf hin, man müsse
sich auf den „Tag danach“, den Tag nach
dem Ukraine-Krieg vorbereiten. Wie denn?
Wir werden auf lange Sicht wieder eine
Art Eisernen Vorhang haben zwischen
Ostsee und Schwarzem Meer. Bis an die
Zähne bewaffnet stehen wir uns dort
gegenüber. Das ist wegen der Informa-
tionsmanipulation, den Cyberattacken
und Fake News weit gefährlicher als im
Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts. Wir
werden viel damit zu tun haben, dabei
eine neue Sicherheitsarchitektur zu ent-
wickeln. Aber solange ein heißer Krieg
in Europa tobt, wird das nicht gelingen.
Putin wird dieses Jahr 70. Ist er
der Alleinverantwortliche des
aggressiven Kurses seines Landes?
Es gibt in den russischen Eliten mittler-
weile tief verwurzelt das Gefühl, dass der
angeblich dekadente Westen ihr Gegner
sei und die Vernichtung Russlands wolle.
Putin ist da nicht allein. Und insgesamt
fehlt es in Russland fast vollständig an
einer bürgerlichen Zivilität. Die jetzt
sichtbare Brutalität des Krieges hat ihre
Ursachen in einer strukturellen Brutalität
der Gesellschaftsordnung des Landes, in
der ein Menschenleben politisch nicht
viel zu zählen scheint.
Sie haben Putin mehrfach persönlich ge-
troffen. Haben Sie da nie Irritationen erlebt?
Ich fragte ihn mal, wie er überhaupt
mit dem syrischen Menschenschinder
Baschar al-Assad gemeinsame Sache
machen könne – auch wenn es zu jenem
Zeitpunkt gegen die Terroristen des Isla-
mischen Staats ging. Und er gab mir die
vielleicht entlarvende Antwort: „Wer Krieg
führt, muss ihn auch gewinnen wollen.“
Das hieß ja letztlich: Der Zweck heiligt
die Mittel. Und auch seine Vorstellung,
dass die ganze gegen die korrupte politi-
sche und wirtschaftliche Elite der Ukraine
2017 nannten Sie Deutschland
und Europa selbst „sicherheits-
politische Trittbrettfahrer“.
Ja, wir haben uns als Europäer immer
auf die Sicherheitspolitik der USA verlas-
sen. Donald Trump hat uns gezeigt, dass
diese Zeiten vorüber sind. Deshalb muss
Europa selbstständiger werden.
Ist durch die jüngsten deutschen Waffen-
Entscheidungen pro Ukraine die Möglichkeit
eines dritten Weltkrieges gewachsen?
Ich halte nichts davon, Panik zu ver-
breiten. Aber die Möglichkeit einer Aus-
weitung des Krieges existiert leider. Und
dass dabei auch der Einsatz von takti-
schen Nuklearwaffen eine Rolle spielen
kann, ist offensichtlich. Deshalb wollen
die USA, die Nato und auch Deutsch-
land ja gerade nicht direkter Kriegsgeg-
ner Russlands werden.
Überrascht Sie der neue – selbst von
linksliberalen Medien betrommelte –
Bellizismus in Deutschland?
Jeder, der die Bilder von Mariupol und
anderen Orten in der Ukraine sieht, wird
sich wünschen, dass man dieser Zerstö-
rungswut ein Ende setzt. Ich verstehe
auch die Ukraine, die sich im Grunde ja
einen Kriegseintritt der Nato und auch
Deutschlands wünscht, um Russland zu
stoppen. Dass wir dazu Nein sagen, hat
doch einen einzigen Grund: Wir sind
sicher, dass eine Ausweitung des Krieges
bis zum Einsatz von russischen Atom-
waffen am Ende keine Sieger kennt –
auch nicht die Ukraine. Sondern nur
Verlierer.
Ob Deutschland als Kriegsteil-
nehmer wahrgenommen wird,
entscheiden eh nicht wir ...
... sondern Putin, klar. Deshalb helfen
Gutachten über die völkerrechtliche
Zulassung von Waffenlieferungen wie
das vom Wissenschaftlichen Dienst des
Bundestags auch nicht weiter. Wenn es
nach dem Völkerrecht ginge, gäbe es den
ganzen Krieg nicht.
Was wünschen Sie sich jetzt für Deutsch-
land? Dass wir aus unserem moralischen
Bällebad allmählich rausfinden?
Das erleben wir gerade schon. Was wir
noch nicht wahrhaben wollen: Diese Zei-
tenwende wird ökonomisch auch für uns
als Exportgröße noch schmerzhaft wer-
den. Denn bisher leben wir von einem
weitgehend ungestörten Welthandel. Die-
se Zeit kommt so schnell nicht zurück.
Und was unsere Politik angeht, so bleibt
die wichtigste Lehre für Deutschland:
niemals allein. Henry Kissinger hat uns
Deutsche mal etwas ironisch beschrieben:
Wir seien zu groß für Europa und zu klein
für die Welt. Da ist schon was dran. n
„Ich halte nichts davon,
Panik zu verbreiten. Aber die
Möglichkeit einer Auswei-
tung des Krieges existiert“
Sigmar Gabriel, Ex-Vizekanzler
SPD-Kanzler Brandt,
Sowjetführer Breschnew
vor der Krim-Küste (1971)
„Aus einer Position der
Stärke heraus verhandelt“
gerichtete Bürgerrechtsbewegung nichts
anderes sei als ein Komplott der USA,
war natürlich irritierend. Deutschland war
in seiner Sicht immer so etwas wie die
„fünfte Kolonne“ der USA. Richtig ernst
genommen hat er uns da nicht.