Der schwarze Kanal
Foto: Markus C. Hurek für FOCUS-Magazin
S
eit Langem fragen sich viele Deutsche, wie
sie sich vor 80 Jahren wohl verhalten hätten.
Bei den 28 Publizisten und Künstlern, die mit
einem offenen Brief in der „Emma“ an Bun-
deskanzler Olaf Scholz appellierten, ja keine
schweren Waffen in die Ukraine zu liefern,
ist man nicht länger auf Vermutungen ange-
wiesen. Die 28 hätten zu denen gezählt, die den Friedens-
schluss mit Hitler-Deutschland gesucht hätten.
Alle Argumente, die sie nennen, hätten schon damals
gegolten: dass die Angst vor dem Weltenbrand ein beson-
nenes Agieren notwendig mache. Dass die Pflicht, dem
Schwachen beizustehen, dort ende, wo der Widerstand den
Angreifer noch wilder mache. Dass auch der berechtigte
Widerstand gegen einen Aggressor das Leid der Zivilbevöl-
kerung so vergrößern könne, dass er moralisch nicht mehr
zu rechtfertigen sei.
Es gab vor 80 Jahren, nach dem Blitzkrieg gegen Frank-
reich, eine ähnliche Diskussion wie heute. Soll man sich
dem Diktator entgegenstellen – oder
beschwört der Widerstand nur noch
größeres Unglück herauf?
„Fünf Tage in London“ heißt ein
kleines, sehr lesenswertes Buch,
in dem der Historiker John Lukacs
die Diskussion 1940 im britischen
Kriegskabinett nachzeichnet. Hier
die Warner um den gerade zurück-
getretenen Premierminister Cham-
berlain, die meinten, man dürfe nicht
auf Eskalation setzen und solle Hitler
Friedensverhandlungen anbieten.
Dort die Gruppe um Churchill, die
sagte: Kämpfen? Jetzt erst recht! Am
Ende setzte sich Churchill knapp
durch, zum Glück für den Kontinent
und die Welt.
Es finden sich bekannte Namen unter dem Appell an
Scholz, der seit seinem Erscheinen die Gemüter bewegt.
Die Altgrüne Antje Vollmer hat unterschrieben, der So-
zialpsychologe Harald Welzer, der schon vor Wochen die
„unangenehmen Gefühle“ beschrieb, die es ihm bereite,
wenn jemand „tapfer für sein Land“ kämpfe.
Aber es gibt eine Reihe von Namen, die mich überrascht
haben. Auch Dieter Nuhr oder Gerhard Polt meinen, dass
Olaf Scholz der Ukraine Panzer verweigern sollte? Und was,
um Gottes willen, ist in Juli Zeh gefahren, die Frau, die
Erfolgsbücher über Leute schreibt, die es nicht im Prenz-
lauer Berg aushalten, und die nun den Ukrainern rät, sich
mit der russischen Besatzung zu arrangieren?
„Mit brennendem Herzen und in großer Sorge“, so be-
gannen früher Unterschriftenaktionen, in denen gegen alles
Mögliche zu Felde gezogen wurde – die Überbevölkerung,
das Waldsterben, den Atomstaat. Ich dachte, der Intellek-
tuelle, der mahnend das Wort an die Politik richtet, sei mit
Günter Grass für immer von der Bühne verschwunden. Da
habe ich mich erkennbar geirrt.
Der Krieg führt zu merkwürdigen Konstellationen und
Allianzen. Ich finde mich plötzlich an der Seite von Leuten
wieder, mit denen ich eben noch in nahezu jeder Frage
über Kreuz lag. Ich lese, was linke Plagegeister wie Friede-
mann Karig, Jagoda Marinic oder Mario Sixtus zum Krieg
zu sagen haben, und es erscheint mir grundvernünftig. Ich
meine: Sixtus! Der Mann, der auf Twitter das halbe Internet
geblockt hat. Und jetzt kann ich jedes Wort von ihm unter-
schreiben.
Das letzte Mal, dass meine Welt so durcheinandergeriet,
war nach den Anschlägen vom 11. September. Ich leb-
te mit der Familie in New York, als die Türme fielen und
George W. Bush dem Irak den Krieg erklärte. In meinem
Postfach fanden sich darauf Schrei-
ben von Freunden, sie hätten eigent-
lich zu Besuch kommen wollen, aber
da der Besuch als Solidarität mit den
USA verstanden werden könnte,
müssten sie ihn leider verschieben.
Einige Freundschaften haben sich
davon nicht mehr erholt. Es gibt
Momente, in denen man auf den
Boden einer Beziehung sieht. Das ist
wie in einer Ehe, wenn der Partner
ein Gesicht zeigt, das man anschlie-
ßend nicht mehr vergessen kann, so
sehr man sich auch bemüht.
Ich vermute, dass die Panzerliefe-
rungsgegner mehr Menschen hinter
sich haben, als es den Anschein hat.
Möglicherweise vertreten sie sogar
JAN FLEISCHHAUER
Mit brennendem
Herzen
War es nicht immer eine Eigenschaft der Linken,
wegen allem wie Espenlaub zu zittern? Und nun
wollen ausgerechnet die Grünen Waffen an die
Ukraine liefern und Leute wie Dieter Nuhr und
Martin Walser stemmen sich aus Angst dagegen
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Der Krieg führt zu
merkwürdigen Allianzen.
Ich finde mich plötzlich
an der Seite von Leuten
wieder, mit denen ich
eben noch in nahezu jeder
Frage über Kreuz lag
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