Handlungsspielraum aufgebraucht
UmkehrkUrve Sinkende Wolkenbasis, zurückgehende Sicht, selbst in Sicherheitsmindesthöhe geht’s
nicht mehr weiter. Trotzdem hält ein Pilot an seinem Streckenziel fest – bis es beinahe zu spät istZEICHNUNG Helmut Mauche
s sollte nach Spanien gehen. Von
Freiburg bis zu den Pyrenäen war
ein einziger Zwischenstopp geplant,
doch querab von Montpellier, noch weit
vor der spanischen Grenze, hatte ich schon
fünf Zwischenstopps gebraucht: schlechte
Sicht, Schauer, an den Bergen auliegende
Bewölkung und auch noch starker Gegen-
wind. Vier Tage des kostbaren zweiwöchi-
gen Urlaubs waren bereits vergangen.
Jetzt hangelte ich mich an den Ausläu-
fern der Cevennen entlang, rechts Berge,
links Flachland. Wie eine schiefe Ebene
stieg das Gelände nach Norden an. Dort
verschwand es in den Wolken. Die abneh-
mende Sicht zwang mich immer tiefer –
500 Fuß , 400 Fuß ... Doch vor mir wollte es
partout nicht heller werden. Ringsum nur
noch dichter werdende Suppe ... Es reicht!
Steilkurve nach links, weg von den Bergen,
Höhenverlust ... die Bäume! Gas geben,
steigen ... alles wird weiß ... wieder tiefer
... Bäume, Häuser! Nicht so schnell und
irgendwie zwischen Gelände und Wolken
hindurch. Aber in welche Richtung geht’s
überhaupt zurück? Vor der Umkehrkurve
habe ich nicht auf den Kompass geschaut,
und ausgerechnet jetzt verdeckt ein irrele-
vanter Lutraumhinweis auf dem kleinen
GPS-Display das Flugzeugsymbol: Ich weiß
nicht, in welche Richtung ich liege. Die
schiefe Ebene ... vorhin war sie rechts, ich
muss sie links von mir haben, dann geht’s
zurück. Aber wenn es hinter mir zugemacht
hat ...? Irgendwann wird es wieder heller –
abhauen nach Süden, Landung in Lezig-
non, Sonne, Café au lait an einem gemüt-
lichen Platz unter Bäumen, das Zelt bleibt
verstaut, ich gönne mir ein Hotel. Und
fühle mich wie neugeboren. Was für ein
Schwachsinn, dieser Flug! Warum habe ich
nicht früher umgedreht?Ich war meinem Zeitplan weit hinter-
her und wollte unbedingt Strecke machen.
Als die Sicht zurückging, gab es keinerlei
Hinweis darauf, dass sie in Flugrichtung
besser werden würde. Ab einem be-
stimmten Punkt wusste ich, dass es nicht
weitergeht. Da wäre eine Umkehrkurve
noch gefahrlos möglich gewesen. Aber ich
wollte bis zum letzten Moment weiter, bis
ich gezwungen war umzudrehen. Beinahe
wäre das schiefgegangen, weil ich schon
viel zu tief und die Sicht unterm Minimum
war. Dumm auch, dass ich mir nicht mal
den Kurs gemerkt habe, um auf Gegenkurs
dem Desaster entliehen zu können.
Ein Flugzeug, das dicht überm Boden
im Nebel verschwindet, ein Wrack, das spä-
ter gefunden wird – ein Klassiker in Unfall-
berichten. Ich hatte Urlaub und keinerlei
Verplichtungen; niemand muss in eine
derartige Situation geraten.Das habe ich gelernt:
>^ Die Fixierung auf Ziele ist gefährlich. Selbst
gesetzte Ziele können genauso zur Falle
werden wie Anforderungen von außen.>^ Wenn feststeht, dass die Änderung eines
Plans unvermeidbar sein wird, hat es
keinen Sinn, den restlichen Handlungs-
spielraum so weit aufzubrauchen, dass
Handlungsnot entsteht. Für ein Manö-
ver wie eine Umkehrkurve ist es dann
möglicherweise zu spät.
>^ Situationsbewusstsein kann lebensret-
tend sein. Frage dich in risikoträchtigen
Situationen immer wieder: Was mache
ich eigentlich gerade? Ist das Risiko, das
ich dabei eingehe, hinnehmbar ange-
sichts des Ziels, das ich verfolge?PRAXIS | SICHERHEIT
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