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ie Frau vor mir ist Mitte dreißig,
und ihr Anliegen ist nicht leicht
auszumachen. „Ich weiß nicht,
was ich machen soll“, fängt sie an. „Ich
muss eine Entscheidung treffen und weiß
nicht, was richtig ist.“ Und nach kurzer
Pause: „Ich glaube, das ist ein altes Prob-
lem von mir, das ich gern in den Griff
bekommen möchte.“ Dann fährt sie fort:
„Seit acht Jahren bin ich verheiratet, und
vor einigen Monaten habe ich mich neu
verliebt. Mein Freund will, dass ich mei-
nen Mann verlasse und mit ihm zusam-
menziehe. Aber ich bin mir da nicht sicher.
Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“
Ich möchte wissen, was ihre jeweilige
Entscheidung für sie konkret bedeuten
würde. Sie schaut mich an: „Na ja, bei mei-
nem Mann zu bleiben würde bedeuten,
weitermachen wie bisher, und das andere
wäre, ein neues Leben anzufangen.“ Ein
neues Leben, denke ich, das gibt es nicht,
weil man ja immer das alte mitnimmt.
Nach einer Weile spricht sie weiter: „Das
wäre verheißungsvoll. Aber meinem Mann
täte es furchtbar weh, wenn ich ihn ver-
lassen würde. Und unsere Ehe war nicht
schlecht. Höchstens inzwischen langwei-
lig geworden. Und er ist ein wunderbarer
Vater.“ „Und das hat Sie bisher daran ge-
hindert, ein neues Leben mit Ihrem Freund
anzufangen? “, frage ich. Sie klärt mich auf:
„ Ic h w e i ß e s n i c h t g e n a u. V i e l l e i c h t j a. M i t
Arno – so heißt er – fühle ich mich so jung,
so lebendig. Das ist natürlich wunderbar.
Ich muss mich entscheiden, aber wie?
Einem von beiden würde ich wehtun.“
„Mir fällt auf, dass Sie gut wissen, wie
es den anderen geht und was sie wollen.
Ihr Freund will, dass sie sich von Ihrem
Mann trennen. Ihr Mann möchte, dass
Sie ihn nicht verlassen. Und was wollen
Sie selbst? “ Sie schweigt. Dann: „Ich glau-
be, das ist genau der Punkt: dass ich in
Wirklichkeit nicht weiß, was ich selbst
wollen darf. Darf ich überhaupt etwas
ganz Eigenes wollen? Eigene Wünsche ha-
ben? Wollen, dass es mir gutgeht? Und
wenn ich jemanden damit verletze? “ Und
sie fährt fort: „Ich passe mich immer den
anderen an.“
Nun erzählt sie mir von einer Situation,
die ihrer Meinung nach typisch für sie ist:
Vor Jahren stand sie mit einer Freundin
vor einem Schaufenster mit sehr unter-
schiedlichen Möbeln und konnte nicht
sagen, was ihr gefiel und was nicht. Sie
w u s s t e e s e i n f a c h n i c h t. „ M e i n e F r e u n d i n
hatte ihren Geschmack, sie wusste genau,
was sie wollte. Da habe ich mich ihr ein-
THERAPIESTUNDE
ILLUSTRATION: MICHEL STREICH
„WAS DARF ICH WOLLEN?“
Margarethe Schindler
ist Psychologische Psychothera-
peutin und arbeitet als systemische
Paar- und Familientherapeutin in
eigener Praxis in Tübingen
Trennen oder bleiben?
Eine Ehefrau weiß
nicht, ob sie ihre Ehe
beenden soll. Die
Psychotherapeutin
Margarethe Schindler
vermutet, dass sich in
dieser Situation ein
Widerstand regt, der
in der Pubertät
ausgeblieben war