heumaps0517

(Ben Green) #1

TROTZ ALLEDEM VIEL ERREICHT


Wie es gelingt, mit seinem Leben zufrieden zu sein


D


ie Erforschung menschlicher Le-
bensläufe hat eine Besonderheit
zutage gefördert: Die meisten
Menschen scheinen im Rückblick auf ihr
gelebtes Leben eher das zu bereuen, was
sie nicht getan haben, als das, was sie –
auch an Falschem oder Schlechtem – ge-
tan haben. Dieser Befund wurde inzwi-
schen relativiert. Entscheidend ist weni-
ger, ob wir Reue oder Bedauern über etwas
Nichtrealisiertes empfinden, sondern wel-
che Schlüsse wir aus diesem Gefühl zie-
hen. Wenn wir nichterreichte Ziele oder
verpasste Chancen bereuen, ist es Zeit,
eine andere Perspektive einzunehmen
und über sich und das bisherige Leben
anders und neu nachzudenken.

Der Maßstab bin ich
Der Psychologe Shane Lopez meint, dass
wir der kontrafaktischen Marter am
ehesten entkommen, indem wir selbst-
referenziell denken. Wenn es um Erfolge
oder Leistungen geht, sollten wir uns
selbst zum Maßstab nehmen: Wie habe
ich mich in den mir wichtigen Punkten
weiterentwickelt oder verbessert? Was wa-
ren realistische Ziele, die ich hätte schaf-
fen können?
Statt auf unerreichbare Vorbilder zu
schielen und sich Selbsttäuschungen oder
dem Selbstmitleid hinzugeben, sollte man
sich auf das konzentrieren, was gelungen
ist und worauf man sogar stolz sein kann.

Die Was-wäre-wenn-Falle
vermeiden
Statt mit einer Fehlentscheidung zu ha-
dern, sollten wir die entscheidende Epi-
sode umdeuten, ihr einen neuen Sinn ge-
ben: Vielleicht hatte das Nichterreichen
eines Ziels, eine Niederlage, ein Scheitern
ja einen Sinn, der uns bisher verborgen
war? Vielleicht haben wir aus einer Schwä-
che, einer Sucht, einem Versagen doch
eine Lehre gezogen, die uns positiv beein-
f lusst hat? Und vielleicht können wir so-
gar stolz darauf sein, trotz dieses wunden
Punktes in unserer Biografie etwas ge-
worden zu sein? So erkennt ein in seinem
Beruf durchaus erfolgreicher Mann, dass
er wohl niemals eine Führungsposition
erreichen wird, da er aufgrund seiner Bio-
grafie und Erziehung nicht das dafür not-
wendige „Macht-Gen“ und Selbstvertrau-
en entwickelt hat. Kann er sich mit diesem
Defizit aussöhnen und gleichzeitig auf das
trotzdem Erreichte stolz sein, vermeidet
er die „Was-wäre-wenn-Falle“.
Der Biografieforscher Dan McAdams
spricht von Erlösungs- und Befreiungs-
geschichten, die wir uns selbst erzählen
und aus denen wir Kraft und seelisches
Wachstum schöpfen. Der eingangs er-
wähnte Fußballer und Beinaheweltmeis-
ter Sergej Evljuskin hat es offensichtlich
fertiggebracht, eine solche „Befreiungs-
geschichte“ zu schreiben. Er sei mit seinem
Leben „nicht unzufrieden“, stand in einem

Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung. „Abitur geschafft, Ausbildung ab-
geschlossen, Fernstudium am Laufen,
Leidenschaft wenigstens zum Nebenberuf
gemacht. Für ein Aussiedlerkind gar nicht
schlecht.“

Loslassen ist eine Leistung
Mit dem Sprachbild „Verstiegenheit“ hat
der Schweizer Psychiater und Daseinsana-
lytiker Ludwig Binswanger (1881–1966)
eine Form „missglückten Daseins“ be-
schrieben: Wie ein Bergsteiger, der beim
Aufstieg seine Route falsch wählt und sich
nicht rechtzeitig korrigiert, versteigen sich
manche Menschen so, dass es schließlich
nicht mehr vorwärts und nicht mehr zu-
rück geht. Hartnäckigkeit ist also nicht
immer sinnvoll. Meist ist es klüger, sich
andere Ziele zu suchen und nicht weiter
Zeit und Energie zu vergeuden. Das ist
leichter gesagt als getan, denn oftmals
h ä n g e n w i r z u s e h r a n e i n e m Tr a u m. Wa -
rum fällt es so schwer, ihn loszulassen?
Meist ist es die Angst, sich das Scheitern
einzugestehen. Doch der Autor Augusten
Burroughs schreibt in seinem Buch This
is How: „Einen Traum aufgeben, weil man
ihn nicht verwirklichen kann, heißt nicht
scheitern. Es gibt viele Arten zu scheitern,
aber diese gehört nicht dazu. Und was
Träume betrifft: Es gibt mehr als einen
pro Person.“ HE
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