heumaps0517

(Ben Green) #1

verbreite sich zunehmend eine aggressive, hasserfüll-
te Sprache. Die Lehrer haben mit dem Manifest „Hal-
tung zählt“ reagiert: „Wir beobachten mit größter
Sorge, wie sich die Stimmung, die Kommunikation
in den sozialen Netzwerken und die alltäglichen Um-
gangsformen in unserer Gesellschaft verändern.“
Nach Einschätzung des Deutschen Lehrerverbandes
beginnt die sprachliche Verrohung immer früher.
„Sie hören heute schon von Acht- oder Neunjährigen
Begriffe wie Hure, Spasti, Asylant.“ Die verbale Ge-
walt eskaliert vor allem in den sozialen Medien, die
sich eher als asoziale offenbaren: Unf lätigkeiten, Be-
leidigungen, eine Sprache weit unter der Gürtellinie.
Nicht nur Lehrer, auch Ordnungskräfte, Kranken-
hauspersonal und selbst die Polizei sind betroffen.
In Brüssel detoniert vor einem Revier eine Bombe.
In Zürich greifen junge Männer Beamte mit Pf las-
tersteinen und Knallpetarden an; in einen Streifen-
wagen werfen sie eine brennende Fackel. In Dortmund
beobachten Polizisten, wie ein 15-Jähriger einem an-
deren Jugendlichen eine Waffe an den Kopf hält. Sie
überwältigen den Jungen. Noch während sie ihn fest-
nehmen, umzingelt eine Menschenmenge die Beam-
ten und bedroht sie. Tom Schreiber, Mitglied des Ber-
liner Abgeordnetenhauses, kommentiert: „Wenn
Mitarbeiter offizieller Stellen bedroht werden, haben
wir ein massives Problem. Der Eindruck entsteht,
dass die staatlichen Institutionen aufgegeben haben.“


Überforderungen führen zu Frustrationen,
für die sinnvolle Bewältigungsstrategien
fehlen
Die Ursache dieser Gewalt wird von Sozialwissen-
schaftlern mit einer Kausalkette aus Überforderung,
Versagung, Kränkung und Aggression erklärt. Vor
allem die dramatisch gestiegenen Belastungen im
Arbeits- und Alltagsleben führten zu immer mehr
Frustrationen, für die in der heutigen Gesellschaft
die sinnvollen Bewältigungsstrategien fehlten; so ent-
lüden sie sich schließlich und zumeist irrational in
Aggressionsakten als vermeintlicher Entlastung. Ver-
stärkt wird diese Entwicklung durch den sukzessiven
Zusammenbruch von Verhaltensmustern, die früher
das menschliche Zusammenleben strukturiert ha-
ben: Respekt, Rücksichtnahme, die Akzeptanz der
staatlichen Ordnung, gegenseitige Hilfe, Höf lichkeit,
Vertrauen, Zivilcourage – alles sogenannte Kardi-
naltugenden, ohne die gesellschaftliches Leben zer-
bröselt.
Das ist uns in unserer Erziehung auch so vermit-
telt worden. Die Sozialwissenschaften nennen das

die „primäre Sozialisation“. Eine ihrer wichtigsten
Lerninhalte ist, dass es außer uns noch andere Men-
schen gibt. Wir lernen, dass auch diese anderen Men-
schen ihre berechtigten Bedürfnisse haben und dass
wir diese Bedürfnisse so respektieren müssen wie die
anderen Menschen die unsrigen. Geregelt wird die-
ser Austausch von Normen und Werten, Regeln und
Gesetzen.
In seinem soziologischen Klassiker Die einsame
Masse unterscheidet David Riesman den innengelei-
teten und außengeleiteten Menschen. Die industri-
elle Gesellschaft – hochdifferenziert – braucht den
„innengeleiteten“ Menschen, der frühzeitig „einen
seelischen Kreiselkompass“ in sich aufnimmt, mit
dem er – einmal vom Elternhaus in Gang gesetzt –
fortan auch Signale von anderen Autoritäten aufneh-
men kann. Der innengeleitete Mensch wird in der
primären Sozialisation auf Werte, Prinzipien und
Ziele festgelegt, die in einem hohen Maß verinner-
licht werden und als lebenslange Verhaltenssteuerung
fungieren.
In der zeitgenössischen Konsumgesellschaft ist
d i e s e r Ty p u s o b s o l e t ; b e n ö t i g t w i r d v i e l m e h r d e r „ a u -
ßengeleitete Mensch“, der jederzeit in der Lage ist,
sich an Trends, Moden und an dem, was jeweils „in“
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