heumaps0517

(Ben Green) #1
SKANDAL

Ein nackter Bischof
auf dem Titel
erregte im März
1992 die Gemüter.
Dabei war das
Thema „Die neue
Weltreligion ist der
Kapitalismus“ viel
spannender

WANDEL

40-jähriges
Jubiläum: Die Titel-
geschichte kann
durchaus als Motto
der Redaktion ver-
standen werden

KRITIK

Wohin führt der Ich-
Kult? Heft 6/1993
thematisierte den
Zusammenhang
zwischen überzoge-
nem Individualismus
und mangelnder
Solidarität

Dazu passt mein Eindruck vom allgemeinen
Verständnis der Psychologie. Die Studien-
ergebnisse, die in vielen Publikumsmedien
publiziert werden, erscheinen Nichtpsy-
chologen häufig banal, weil sie Dinge ab-
bilden, die diese Menschen gefühlt schon
wissen. Psychologie wirkt auf viele deshalb
zu Unrecht wie eine Pseudowissenschaft.
Das Allgemeinverständnis zu studieren ist sehr
interessant: Wie meinen Leute ohne Psycho-
logiestudium, wie sie funktionieren? Dazu gibt
es auch viel Literatur – und große Kulturun-
terschiede. Aber davon einmal Abstand neh-
mend: Dieses Populärwissen ist häufig wider-
sprüchlich. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Gleich
und Gleich gesellt sich gern – Gegensätze zie-
hen sich an. Was davon stimmt jetzt?
Es gibt Forschungsberichte, so kürzlich ei-
nen von der Nationalakademie Leopoldina, in
dem tabellarisch am Beispiel der kognitiven
Entwicklung gegenübergestellt wurde, was die
Populärmeinung ist und was die Befunde sind.
Und da können Sie sehr genau ersehen, wie
häufig überhaupt nicht trivial ist, was die Psy-
chologie findet.
Hat die Psychologie da aber nicht auch
etwas versäumt?
Ja, das hat sie. Solche Übersichten sollte es zu
allen wichtigen Themen geben, um zu zeigen,
was heutiger Wissensstand ist und was Glau-
bensstand. Das Populärwissen führt häufig ja
auch zu großer Verunsicherung und Instinkt-
entfremdung. Sie sehen das heute beispiels-
weise bei Jüngeren, die Kinder bekommen und
im erzieherischen Umgang sehr unsicher sind
und dann über- oder unterreagieren.
Was fasziniert Sie persönlich eigentlich an
der Psychologie? Warum haben Sie sich
entschieden, dieses Fach zu studieren und
dabeizubleiben?
In Österreich gab es damals schon eine allge-
mein angebotene Abiturientenberatung beim
Arbeitsamt, und dort war ich auch. Ich wurde
getestet, und ein Psychologe hat mit mir ge-
sprochen. Der sagte, nach den Testergebnissen
sei ich sicherlich sehr qualifiziert dafür, Psy-
chologie zu studieren, „aber bitte lassen Sie es
sein. Es ist beruf lich völlig aussichtlos.“ Er ken-
ne nur arbeitslose Psychologen, die als Taxi-
fahrer arbeiteten, als Vertreter für Maggi-Sup-


penwürze und Ähnliches – das waren genau
seine Worte: „Studieren Sie was anderes oder
zumindest zusätzlich was anderes.“ Ich bin da-
mals von dort weggegangen mit der festen
Überzeugung, ich werde Psychologie studieren.
Ich erzähle das Studenten immer auch gerne,
nicht nur aus Scherz – wenn man sich für eine
Sache wirklich tief interessiert, dann ist dies
ein sehr guter Prädiktor.
Was ist Ihr Wunsch: Wie soll es weitergehen
mit der Psychologie?
Mein dringlicher Wunsch ist, dass Psychologie
als notwendiges Fachgebiet der Allgemeinbil-
dung erkannt und ein Schulfach wird, mit ver-
nünftigen Lehrplänen, Lehrbüchern und an-
deren Behelfen.
Man sollte Psychologen zudem nicht dau-
ernd fragen, warum etwas so ist, sondern sie
besser in Meinungs- und Planungsprozesse
einbeziehen, sodass sie Gesichtspunkte von
Anfang an mitdenken können, die man sonst
gar nicht berücksichtigt, bei der Verkehrs- oder
Stadtplanung beispielsweise und vielen ande-
ren Dingen. Politikberatung ist ein großes The-
ma. Politiker sollen weiter die Handlungsfrei-
heit haben, wie die Verfassung sie ihnen gibt.
Sie entscheiden politische Fragen, aber sie soll-
ten es informiert tun können.
Und für diese Information bei Fragen, zu
denen psychologische Expertise vonnöten wä-
re, müssen Kanäle geschaffen und Ressourcen
bereitgestellt werden. Das Fatale ist ja, dass man
nicht nach Wissen fragt, von dessen Existenz
man nichts weiß. Das klingt banal, ist in seiner
Konsequenz aber folgenschwer.
INTERVIEW: EVA-MARIA TRÄGER

Prof. Kurt Pawlik wurde 1966
Universitätsprofessor in Ham-
burg. 2002 wurde er emeritiert.
Der heute 83-Jährige trug zu
mehr als 170 wissenschaftlichen
Publikationen bei, darunter 18
Bücher und Handbücher. Er war
neben weiteren Ämtern als Prä-
sident des Criminological Scien-
tific Council beim Europarat, der
Deutschen Gesellschaft für Psychologie, des Inter-
national Social Science Council sowie der Internati-
onal Union of Psychological Science tätig.
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