Die Welt Kompakt - 27.11.2019

(Michael S) #1

POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,27.NOVEMBER2019 SEITE 4


tik auf dem Parteitag. Bundes-
gesundheitsminister Jens
Spahn ging von allen Spitzen-
politikern noch am deutlichs-
ten auf dieses Politikfeld ein –
dafür genügte ihm ein Satz:
„Wir brauchen jetzt neue Ideen
für das neue Jahrzehnt, für die
20er-Jahre: Wie wir Digitalwelt-
meister werden. Wie wir Migra-
tion begrenzen, Integration för-
dern und den Zusammenhalt
der Nation stärken.“
Präziser wurde es nicht in
Leipzig. Und das bei einem Po-
litikfeld, das in allen Umfragen
seit Jahren durchgängig als ei-
nes der wichtigsten Themen
beschrieben wird. Im Ergebnis-
papier zur „Werkstatt“ vom Fe-
bruar hatten die beteiligten
CDU-Politiker noch von „gro-
ßen Herausforderungen“ ge-
schrieben. Die seien entstan-
den, weil Deutschland „zwi-
schen 2015 und 2017“ eine „Ge-

samtmigration von 4,5 Millio-
nen Menschen“ verzeichnet
habe – davon „2,5 Millionen
durch EU-Binnenmigration, 1,
Millionen durch Flucht und
Asylbewerber, 0,5 Millionen
durch Erwerbs- oder Bildungs-
zuwanderung“. Als Volkspartei
müsse die CDU die damit ent-
stehenden Probleme lösen.
Man strebe „an, dass es in der
EU nur ein einmaliges Asylver-
fahren für einen Asylbewerber
geben darf. Es darf künftig kei-
ne Möglichkeiten für Antrag-
stellungen in mehreren Län-
dern geben.“ Hierzu sollte „in
der letzten Konsequenz“ auch
auf „Zurückweisungen an den
deutschen Grenzen“ zurückge-
griffen werden. Zur Sicherung
der Grenzen benötige man „ei-
ne intelligente Grenzüberwa-
chungbis hin zu Zurückwei-
sungen, die die nötige Flexibili-
tät hat, um anlassbezogen auf

die Entwicklung von Brenn-
punkten zu reagieren“.
AAAuch müsse man Herkunfts-uch müsse man Herkunfts-
länder von Ausreisepflichtigen
zur „unbürokratischen Aus-
stellung von Passersatzpapie-
ren“ bewegen. „Staaten, die
sich nicht kooperativ zeigen,
muss mit geeigneten Maßnah-
men im Rahmen der Entwick-
lungszusammenarbeit und
restriktiver Visapolitik begeg-
net werden, um künftig besser
zu Lösungen zu kommen.“
WWWeiterhin wollte man nebeneiterhin wollte man neben
den Maghreb-Ländern „viele
andere Staaten mit einer
Schutzquote von unter fünf
Prozent“ zügig als sichere
Drittstaaten einstufen sowie
die Arbeitsmöglichkeiten für
abgelehnte Asylbewerber ein-
schränken. All diese genann-
ten Ziele der „Werkstatt“ sind
nun nicht zur Beschlusslage
der CDU geworden.
Zumindest bei einem wichti-
gen Ergebnis bewegt sich aber
politisch etwas. Im Februar
hielten die christdemokrati-
schen Migrationspolitiker fest:
„Bereits an den Schengen-
Grenzen“ müsse der Flücht-
lingsstatus geprüft werden. An-
schließend müsse „bereits an
den Außengrenzen des Schen-
genraums, in Hotspots und
Transitzentren die Zurückwei-
sung nicht einreiseberechtigter
Personen und die Rückführung
der Personen ohne Asylgrund
und ohne Flüchtlingsstatus er-
folgen“.
Dieses Element ist in den
Plänen des von Horst Seehofer
(CSU) geführten Bundesinnen-
ministeriums für ein neues Ge-
meinsames Europäisches Asyl-
system enthalten, das inzwi-
schen in den übrigen Ressorts
beraten wird. Nach den Plänen
würde zudem nur noch Asylsu-
chenden mit positiver Vorprü-
fung die Einreise in die EU ge-
stattet. Sie würden dann auf al-
le Mitgliedstaaten verteilt –
nach einer Quote, die Bevölke-
rungsgröße und Wirtschafts-
kraft berücksichtigt. Auch wür-
de erstmals in der Geschichte
der EU die unerlaubte Weiter-
wanderung innerhalb Europas
wirksam bekämpft werden.
„Unterkünfte und Sozialleis-
tungen“ würden „ausschließ-
lich im zuständigen Mitglieds-
staat“ gewährt. Wer in ein an-
deres Land weiterreist und dort
einen weiteren Asylantrag
stellt, würde als „offensichtlich
unbegründet“ abgelehnt.
Ob diese Pläne in den Mit-
gliedstaaten und in der EU-
Kommission auf Zustimmung
stoßen und ein Durchbruch bei
der EU-Migrationspolitik er-
zielt werden kann: unklar.
Nachdem die CDU sich aber
wohl bis auf Weiteres von na-
tionalen Antworten auf die un-
erlaubte Weiterwanderung von
Asylbewerbern verabschiedet
hat, bleibt ihr nur noch die
Hoffnung auf die seit Jahren
ausstehende „europäische Lö-
sung“.

die nichts mit dem Asylsystem
zu tun hatten und wegen Krimi-
nalität oder abgelaufener
Visa ausreisepflichtig wurden.
Stattdessen ist die Zahl der
Ausreisepflichtigen im Laufe
dieses Jahres erneut
gestiegen – auf inzwischen rund
247.000.
In der politischen Debatte ist
seit Februar die Klimadebatte
zum dominierenden Thema ge-
worden – und hat innerhalb des
linken Parteienspektrums zu
besseren Umfragewerten der
Grünen geführt, bei in fast glei-
chem Maße abnehmender Zu-
stimmung zur Linkspartei und
vor allem zur SPD. In der CDU
wiederum führte diese Debat-
tenverschiebung offenbar nicht
nur zu einer intensiveren Be-
schäftigung mit der Klimaer-
wärmung, sondern zu einem
geradezu gespenstischen
Schweigen zur Migrationspoli-

J

ournalisten haben den
Anspruch zu sagen, was
ist. Der Versuch, die
Migrationspolitik der
CDU wahrheitsgemäß abzubil-
den, erfordert aber in erster Li-
nie etwas ganz anderes: näm-
lich zu berichten, was nicht ist.
Was aktuell nicht ist, ist bei der
CDU nach ihrem Parteitag ir-
gendein Beschluss zu den Ideen
aus dem intern als großer Auf-
bruch gefeierten „Werkstattge-
spräch Migration“ im Februar.

VON MARCEL LEUBECHER

Dabei wäre am Freitag und
Samstag in Leipzig der Zeit-
punkt gewesen, um Ergebnisse
dieses Formats zur Parteilinie
zu machen. Vor einem Dreivier-
teljahr hatte die neue Parteivor-
sitzende Annegret Kramp-Kar-
renbauer eine breite Diskussion
über die Migrationspolitik zu-
gelassen. Die 100 Teilnehmer,
darunter viele Befürworter ei-
ner besseren Zuwanderungs-
steuerung, hielten dann auch
als Ergebnis recht konkrete Zie-
le fest: die Verhinderung von
mehrfachen Asylanträgen in
verschiedenen EU-Staaten, die
Einschränkung von Arbeits-
möglichkeiten für abgelehnte
Asylbewerber und vor allem die
prinzipielle Möglichkeit, uner-
laubt nach Deutschland weiter-
reisende Asylbewerber an allen
Grenzabschnitten zurückwei-
sen zu dürfen.
Seit dem Programmparteitag
ist klar: Die CDU möchte diese
in der „Werkstatt“ erarbeitete
Neuausrichtung mehrheitlich
nicht zur Parteilinie machen.
Ganz abgesehen davon, dass sie
mit dem Koalitionspartner SPD
nicht umsetzbar wäre, würde
dies einen Bruch mit dem seit
Jahren von der CDU-Führung
verfolgten Kurs bedeuten. Im
Februar sahen noch viele in der
CDU diesen maßgeblich von
Bundeskanzlerin Angela Mer-
kel beeinflussten Kurs der
schwachen Migrationssteue-
rung als Hauptgrund für Um-
fragewerte unter 30 Prozent,
den Aufstieg der AfD und die
Verschärfung der Integrations-
probleme. Ein Dreivierteljahr
später wurden nicht einmal An-
träge zu den „Werkstatt“-Er-
gebnissen auf dem Parteitag
eingereicht. Die „Wir haben
verstanden“-Phase scheint be-
endet zu sein.
An der tatsächlichen Migrati-
onslage hat sich in der Zwi-
schenzeit so gut wie nichts ge-
ändert: Immer noch reisen mo-
natlich mehr als 10.000 Asylbe-
werber ein; immer noch wird
nur etwas mehr als ein Drittel
als schutzberechtigt anerkannt.
Und auch trotz der vor der
Sommerpause beschlossenen
Gesetze zur besseren Durchset-
zung der Ausreisepflicht wer-
den immer noch nur rund 2000
Migranten pro Monat ins zu-
ständige EU-Land oder in den
Herkunftsstaat abgeschoben;
unter ihnen viele Migranten,

TTTraum von Europa: Afghanische Migranten auf der griechischen Insel Lesbosraum von Europa: Afghanische Migranten auf der griechischen Insel Lesbos

ARIS MESSINIS/ AFP

Das große Schweigen


Vor einem Dreivierteljahr plante die CDU-Führung einen


Aufbruch zu stärkerer Zuwanderungssteuerung. Doch auf


ihrem Parteitag in Leipzig beschloss sie dazu: nichts

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