Die Welt Kompakt - 27.11.2019

(Michael S) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,27.NOVEMBER2019 POLITIK 5


Und dann bekommt


die Linke-Politikerin


Applaus von der AfD


In Erfurt konstituiert sich der Landtag – ohne klare Mehrheiten,


mit sechs Fraktionen. Bricht nun Chaos aus? Die Macht wandert


von der Regierungsbank ins Parlament


Ministerpräsident Bodo
Ramelow beglück-
wünscht Birgit Keller
(Die Linke) in der Kon-
stituierenden Sitzung
des Thüringer Landtags
zur Wahl als Landtags-
präsidentin
DPA

/ MARTIN SCHUTT

ger. Der Versuch der SPD-Lan-
deschefin Andrea Ypsilanti, den
damals amtierenden Minister-
präsidenten Roland Koch
(CDU) mithilfe der Linken zu
stürzen, schlug fehl. Es kam zur
Neuwahl.
Nach einer Neuwahl aber
sieht es in Thüringen trotz der
komplizierten Lage nicht aus.
Trotzdem war lange unklar, wie
es weitergehen sollte. Die nebu-
löse Situation war vor allem
entstanden, weil CDUå-Frakti-
onschef Mohring mehrfach die

Taktik geändert hatte. Zu-
nächst brachte er eine Koopera-
tion von CDU und Linken ins
Spiel, dann wurde spekuliert,
ob er sich am Ende doch mithil-
fe von FDP und AfD zum neuen
Ministerpräsidenten wählen
lassen würde.
Ein von Mohring wochenlang
immer wieder gefordertes Vie-
rerbündnis aus CDU, SPD, Grü-
nen und FDP entpuppte sich als
reine Wunschvorstellung. Dass
die CDU bei der Landtagswahl
der große Verlierer in Thürin-
gen war und Mohring deshalb
keinen Anspruch auf eine Regie-
rungsbildung erheben konnte,
wurde von ihm erstaunlicher-
weise erst sehr spät eingeräumt.

Auch Thüringer Christdemo-
kraten glauben, dass Mohring
mit seinen aktionistischen Vor-
schlägen von dem Debakel ab-
lenken wollte. Als er am vergan-
genen Wochenende bei einer
Tagung der Jungen Union auf-
trat, war der Beifall jedenfalls
allenfalls bemüht, über weite
Strecken blieb er ganz aus.
Das politische Mäandern hat
Mohring auch in der eigenen
Partei und in der Fraktion er-
heblich geschadet. Die Rolle der
geschwächten Union in diesem
Thüringer Minderheitsspiel
bleibt unklar.
Eine gewisse Orientierung
kam nun aus der zweiten Reihe,
von Mohrings langjährigem
Pressesprecher Karl-Eckhard
Hahn. Der CDU-Mann setzte
vor Kurzem einen erstaunli-
chen Tweet ab:„Eine CDU-Thü-
ringen, die sich ihrer selbst ge-
wiss ist und die Linke Thürin-
gen dazu bewegen könnte, ein
paar ideologische Weichenstel-
lungen zu korrigieren, müsste
dies nicht fürchten“, hieß es da.
Und weiter: „SPD und Grüne in
Thüringen könnten sich in der
Opposition erholen.“ Hahn füg-
te hinzu, dass sei „ausdrück-
lich“ nur seine „persönliche
Meinung“.
Eine Koalition von CDU und
Linken hätte im Landtag zwar
eine stabile Mehrheit. Aber po-
litisch wird sie nicht zustande
kommen. Dass die CDU in Thü-
ringen aber künftig einer linken
Minderheitsregierung auch
Forderungen abringen kann
und „ideologische Weichenstel-
lungen“ etwa bei Themen der
inneren Sicherheit korrigieren
könnte, ist nicht abwegig. Denn
im Thüringer Parlament gibt es
jetzt zwei Möglichkeiten: Ent-
weder blockieren sich alle ge-
genseitig. Oder es gilt die Devi-
se: Leben und leben lassen. Auf
der ersten Sitzung der 7. Legis-
laturperiode wurde in Erfurt
Letzteres versucht.

D

afafafür, dass es im Thü-ür, dass es im Thü-
ringer Landtag kei-
ne klaren politi-
schen Mehrheiten
gibt, lief es auf der konstituie-
renden Sitzung erstaunlich
glatt. Um kurz nach halb zwölf
nahm Birgit Keller, die neu ge-
wählte Präsidentin des Parla-
ments, auf ihrem leicht erhöh-
ten Sitz im Plenarsaal Platz.
Kurz zuvor war die Linken-Po-
litikerin mit 52 Ja-Stimmen bei
zehn Enthaltungen und 28
Nein-Stimmen in das Amt ge-
wählt worden.


VON CLAUS CHRISTIAN MALZAHN
AUS ERFURT

Die Wahl der Landtagspräsi-
dentin und ihrer Stellvertreter
war bis vor wenigen Jahren
noch auch in Thüringen eine
eher langweilige Angelegenheit.
Die großen Parteien machten
die Sache vorher im stillen
Kämmerlein aus, Überraschun-
gen gab es selten. Doch wenn
Keller, die von 2014 bis 2019
Landwirtschaftsministerin im
Freistaat war, jetzt von ihrer
Empore in den Thüringer Land-
tag blickt, wird sofort deutlich,
wie sehr sich die Lage verän-
dert hat.
Im 7. Landtag sitzen nun mit
Linken, AfD, CDU, SPD, Grü-
nen und FDP insgesamt sechs
Fraktionen. Kein herkömmli-
ches politisches Lager verfügt
über eine Dominanz. Die Linke
wurde am 27. Oktober zwar zur
stärksten Partei und damit auch
zur stärksten Fraktion. Doch
zugleich hat die rot-rot-grüne
Koalition von Ministerpräsi-
dent Bodo Ramelow vor 30 Ta-
gen ihre Mehrheit verloren.
Dass Keller, die die erste Hälfte
ihres Lebens in der DDR ver-
bracht hat, gleich im ersten
Wahlgang zur Präsidentin des
Landtags gewählt wird, war kei-
nesfalls selbstverständlich.
Denn Keller, früher SED-Mit-


glied, war auch auf Stimmen
angewiesen, die nicht zum rot-
rot-grünen Lager gehören. „Ich
werde versuchen, das Beste zu
geben, und sehe mich als Präsi-
dentin des ganzen Landtags“,
erklärte Keller nach der Wahl –
da applaudierten sogar die Ab-
geordneten der AfD.
An der volatilen Grundsitua-
tion wird sich in den nächsten
Monaten und Jahren in Erfurt
nichts ändern. Durchregieren
kann im Thüringer Parlament
niemand mehr. Die politische

Macht verlagert sich von der
Regierungsbank in den Plenar-
saal. Eine völlig neue Situation:
Auch bei kleineren Problemen
sind künftig interfraktionelle
Absprachen nötig. Nach dem
Motto: Hilfst du mir, helf’ ich
dir. So wurde auf der konstitu-
ierenden Sitzung des Landtags
der Bürgerbeauftragte bestä-
tigt, den die CDU aufgestellt
hatte. Kurt Herzberg, ein Ver-
trauter des ehemaligen CDU-
Ministerpräsidenten Dieter Alt-
haus, bekam 71 von 90 Stim-
men.
Die Wahlgänge von Keller
und Herzberg galten auch als
leiser Probelauf für die Wahl
des Ministerpräsidenten: Ra-

melow bleibt fürs Erste ge-
schäftsführend im Amt. Im Fe-
bruar will er sich erneut zur
Wahl stellen und eine rot-rot-
grüne Minderheitsregierung
bilden. Ohne gewisse Verabre-
dungen mit CDU, FDP – und
vielleicht sogar der AfD – wird
das kaum gelingen.
Eine absolute Mehrheit wird
Ramelow zwar kaum erreichen.
Aber die Thüringer Landesver-
fassung erlaubt, dass ein Minis-
terpräsident im dritten Wahl-
gang auch mit relativer Mehr-

heit gewählt werden darf.
Nachdem CDU-Landeschef
Mike Mohring am Wochenende
erklärt hatte, dass er gegen Ra-
melow nicht kandidieren will,
und Vertreter der Unionsfrakti-
on zugleich deeskalierende Sig-
nale gesendet hatten, scheint
die Bildung einer Minderheits-
regierung tatsächlich möglich.
Es wäre das erste Mal in der Ge-
schichte der Bundesrepublik,
dass so ein Modell dauerhaft
versucht wird. Ähnlich kompli-
zierte politische Verhältnisse
gab es zuletzt vor zehn Jahren
in Hessen. Damals entstand
nach einer Landtagswahl ein
Patt zwischen dem schwarz-
gelben und dem rot-grünen La-
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