National Geographic Germany - 11.2019

(Barry) #1
ZUKUNFT GESTALTEN 45

gebühren sind ein großes Hinder-


nis für Mädchen, weiter die Schule


zu besuchen, zumal diese gern bei


der Feldarbeit eingesetzt werden.


„Ich sprach mit den Schulleitern


und bat sie, diese Mädchen nicht


auszuschließen, auch wenn sie


nichts zahlen“, sagt sie. „Denn an-


dernfalls würden ihre Eltern sie


sofort verheiraten.“


Ihre Stimme ist nicht die einzige,

die Malawis kulturelle Landschaft


verändert. Im Mwanza Traditional


Authority im Distrikt Salima hat


auch Chalendo McDonald (67), bes-


ser bekannt als Chief Mwanza,


sexuelle Initiationsriten und Kin-


derehen verboten. Sie steht 780


Dörfern und etwa 900 000 Ange-


hörigen der ethnischen Gruppe der


Chewa vor, und auch sie hat es sich


zur Aufgabe gemacht, Malawi zu


verändern. In ihrem Distrikt hat sie


insgesamt 320 Frauen zu Chiefs


ernannt, „weil weibliche Chiefs für


Frauenthemen eintreten.“


In den 15 Jahren, seit sie zum

Chief ernannt wurde, annullierte


sie 2 060 Kinderehen – und doch


besteht die Praktik trotz der ver-


schiedenen Verbote immer noch


fort. Auf die Frage, wann sie zum


letzten Mal ein Mädchen vor einer


frühen Ehe bewahrt hat, sagt sie:


„Erst gestern. Und vorgestern hatte


ich mit einem anderen Problem im


Zusammenhang mit einer Kinder-


ehe zu tun. Sie ist noch Alltag.“


In Tunesien spielen Frauen seit

den 1950er-Jahren unter Präsident


Habib Bourguiba eine wichtige Rolle


in Politik und Gesellschaft – aller-


dings nicht alle von ihnen. 1981 ver-


bot der von einer säkularen Gesell-


schaft überzeugte Bourguiba Frauen


und Mädchen das Tragen des Hijab


in öffentlichen Einrichtungen. Da-


mit schloss er praktisch verschleierte


Frauen aus staatlichen Schulen, dem


öffentlichen Dienst und anderen


öffentlichen Räumen aus.


Die tunesische Revolution im

Jahr 2011, der erste Aufstand des


Arabischen Frühlings, führte zum
Ende des diktatorischen Regimes
von Bourguibas Nachfolger Zine el
Abidine Ben Ali und brachte neue
Gesichter in die politische Arena,
auch verschleierte Frauen. Das
Straßenbild in der Hauptstadt
Tunis veränderte sich deutlich: Auf
einmal trugen mehr Frauen Kopf-
tuch, vielleicht ebenso aus Trotz
wie aus Religiösität. Die Verände-
rungen durch die Revolution ver-
blüfften Beobachter und erinnerten
sie an die Weisheit: „Was verboten
ist, wird begehrt.“
Das 1956 verabschiedete tunesi-
sche Familienstandsgesetz gehörte
damals zu den fortschrittlichsten
in der Region. Es verbot die Polyga-
mie, sorgte für die Gleichbehand-
lung bei Scheidungen und führte
ein Mindestheiratsalter sowie ge-
genseitiges Einvernehmen bei der
Eheschließung ein. Die Abtreibung
wurde 1965 für Frauen mit fünf
oder mehr Kindern legalisiert,
wenn der Ehemann zustimmte;
1973 dann für alle Frauen. In den
folgenden Jahrzehnten hielten die
tunesischen Frauen an dem fest,
was sie erreicht hatten – wohl auch,
weil ihr Land vor den verheerenden
Kriegen, Sanktionen und Gewalt
verschont blieb, die den Irak und
andere Länder zerfleischten.

Bochra Belhaj Hamida


ist eine Anwältin


für Menschenrechte und Abgeord-
nete im Parlament. Sie machte sich
zunächst Sorgen über das, was pas-
sieren könnte. „Wir Frauenrechtle-
rinnen befürchteten, dass die Revo-
lution uns zurückwerfen würde,
aber das Gegenteil ist eingetreten.“
Ihre Bedenken verstärkten sich,
als die islamistische Ennahda-Par-
tei die stärkste Kraft in Tunesiens
erster postrevolutionärer Regierung
stellte. Jetzt sagt sie: „Ohne die
Revolution wären die Reformen
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