Allein das „Zukunftskonto“ und die
Pflegezusatzversicherung summie-
ren sich nach Berechnungen der Ar-
beitgeber auf rund 2,5 Prozent. Wie
viel Raum bleibt dann noch für eine
Reallohnerhöhung, die Sie zusätz-
lich fordern?
Das werden die Verhandlungen zei-
gen. Uns ist klar, dass die Branche
nicht mehr so rosig dasteht wie noch
vor einem Jahr. Aber das Gerede von
einer Nullrunde hat mich schon
überrascht. Wir sprechen in der
Branche ja nicht über rote Zahlen,
sondern über Abstriche bei der Ren-
dite.
Die Große Koalition will bald ihre
Halbzeitbilanz ziehen, möglicher-
weise verabschiedet sich die SPD da-
nach aus dem Bündnis. Wie fällt Ihre
Bilanz aus?
Gemessen am Koalitionsvertrag ist
die Performance der SPD, aber auch
der Bundesregierung insgesamt nicht
so schlecht. Aber auf die großen Fra-
gen – wie umgehen mit der alternden
Bevölkerung, mit der Fluchtmigrati-
on, mit dem Erhalt des Industrie-
standorts – haben Union und SPD
noch keine für die Bürger überzeu-
genden Antworten gefunden. Und
angesichts der Personalquerelen
können sich die Zuschauer, die ei-
gentlich einen Wettstreit der Besten
erwarten dürfen, auch nur verwun-
dert die Augen reiben. Wenn sich das
nicht ändert, werden am Ende die
Politik an sich und die Demokratie
beschädigt.
Vermissen Sie auch mehr Einsatz
der Bundesregierung für die Tarif-
autonomie?
Wir haben heute über alle Branchen
weniger als 50 Prozent Tarifbindung,
aber viele Unternehmen, die sich an
Tarifverträgen orientieren und damit
von dem profitieren, was Arbeitgeber
und Gewerkschaften ausgehandelt
haben. Und viele Arbeitgeberverbän-
de befeuern das, indem sie eine Mit-
gliedschaft ohne Tarifbindung zulas-
sen. Das muss aufhören, weil sonst
ein Arbeitgeberverband kaum mehr
ist als eine Anwaltskanzlei. Das ist ein
Thema, das eine Große Koalition, die
große Politik machen will, eigentlich
gelöst haben müsste.
Herr Vassiliadis, vielen Dank für das
Interview.
Die Fragen stellten Frank Specht
und Klaus Stratmann.
SPD
Rückkehr der Hoffnungsträgerin
Franziska Giffey behält ihren
Doktortitel und kann
Familienministerin bleiben.
SPD-Chefin will sie nicht
werden – zumindest vorerst.
J. Hildebrand, C. Rothenberg,
K. Stratmann Berlin
F
ür Franziska Giffey war es eine
gute Nachricht. Die Freie Uni-
versität Berlin hat nach mona-
telanger Prüfung verkündet, ihr den
Doktortitel nicht abzuerkennen.
Auch wenn es eine Rüge von der FU
gab, ist nun klar: Die SPD-Politikerin
kann Familienministerin bleiben.
Doch in die Erleichterung dürfte sich
auch ein wenig Ärger gemischt ha-
ben. Denn die Entscheidung der Uni-
versität kam für Giffey zu spät.
Die beliebte Sozialdemokratin galt
als aussichtsreiche Kandidatin für
den SPD-Vorsitz, nachdem Andrea
Nahles zurückgetreten war. Giffey be-
teiligte sich aber nicht an dem Bewer-
bungsverfahren. Sie wolle „nicht zu-
lassen, dass das derzeit anhängige
Verfahren zur Überprüfung meiner
Doktorarbeit, auf das ich keinen Ein-
fluss habe, den Prozess der personel-
len Neuaufstellung der SPD über-
schattet oder gar belastet“, schrieb
sie Mitte August an Interimspartei-
chefin Malu Dreyer. Gleichzeitig kün-
digte sie an, als Familienministerin
zurückzutreten, sollte die Uni ihr den
Doktortitel aberkennen.
Das muss sie nun nicht. Doch in
das Rennen um den SPD-Vorsitz wird
sie vorerst auch nicht mehr eingrei-
fen können. „Ich habe mich am An-
fang des Verfahrens aus besagten
Gründen entschieden, nicht anzutre-
ten, und zum jetzigen Zeitpunkt des
Verfahrens kann ich Ihnen sagen,
werde ich auch bei dieser Entschei-
dung bleiben“, erklärte Giffey.
Die 41-Jährige reagierte damit auf
entsprechende Gedankenspiele in ih-
rer Partei. Der SPD-Bundestagsabge-
ordnete Axel Schäfer hatte in der
„Süddeutschen Zeitung“ vorgeschla-
gen, dass die bereits für die Stich-
wahl qualifizierte Brandenburgerin
Klara Geywitz, die an der Seite von
Finanzminister Olaf Scholz kandi-
diert, verzichten könnte. Scholz und
Giffey könnten dann zusammen an-
treten. „Dieses Duo wäre nach innen
wie nach außen das heute überzeu-
gendste Team“, so Schäfer.
Bei aller Beliebtheit von Giffey
stieß der Vorschlag allerdings sofort
auf Ablehnung in der SPD. „Das halte
ich nicht für angemessen“, sagte der
wirtschaftspolitische Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion, Bernd West-
phal, dem Handelsblatt. „Die Ent-
scheidungen über die Zusammenset-
zung der Kandidatenduos sind gefal-
len.“ Ein Eintritt in das Rennen sei
nicht mehr möglich, hieß es auch aus
dem Willy-Brandt-Haus.
Schließlich gab es bereits 23 Regio-
nalkonferenzen, auf denen sich die
ehemals acht Bewerberduos vorstell-
ten. Die meisten Stimmen der SPD-
Mitglieder erhielten bei der anschlie-
ßenden Wahl Scholz und Geywitz so-
wie der frühere NRW-Finanzminister
Norbert Walter-Borjans und Saskia
Esken. Beide Kandidatenduos stehen
nun in der Stichwahl. Die Zusam-
menstellung könne jetzt nicht mehr
geändert werden, hieß es aus der
SPD-Zentrale. Zumal ein Wechsel alle
Kritiker bestätigen würde, die bekla-
gen, dass der Fokus zu sehr auf
Scholz und Walter-Borjans liege und
die Mitbewerberinnen nur an der
Seite stünden.
Theoretisch bliebe Giffey noch ei-
ne zweite Möglichkeit, in das Rennen
einzugreifen. Offiziell wird über die
künftige Führungsspitze auf dem
SPD-Parteitag abgestimmt. Das Vo-
tum der SPD-Mitglieder ist für die
Delegierten nicht bindend. Giffey
könnte sich also noch bewerben. Da-
zu wäre die Unterstützung von 50
Delegierten aus fünf Bezirken not-
wendig. Über eine solche Kandidatur
wird auch spekuliert, weil Giffey am
Donnerstag sagte, sie wolle „zum jet-
zigen Zeitpunkt“ nicht antreten.
Lässt sie sich eine Hintertür offen?
Auch das wird in der Partei als na-
hezu ausgeschlossen angesehen.
Schließlich müsste Giffey eine Kampf-
kandidatur gegen ein von den SPD-
Mitgliedern gewähltes Duo wagen.
Das würde an der Basis wohl nicht
für Begeisterung sorgen.
Dass die 41-jährige SPD-Hoffnungs-
trägerin einen solchen Coup unter-
nimmt, ist deshalb unwahrschein-
lich. Schließlich rührt ihre Beliebtheit
auch von ihrer Nähe zu Basis und
Bürgern. Die frühere Bezirksbürger-
meisterin von Neukölln gilt als volks-
nahe Kümmererin. Am Donnerstag
war Giffey bei einem ihrer vielen Ki-
ta-Besuche dieses Mal in Mainz. „Ich
bin die Franziska, und ich komme
aus Berlin“, stellte sie sich vor.
In der SPD halten es viele für denk-
bar, dass Giffey in Berlin ihren nächs-
ten Karriereschritt plant: die Kandi-
datur als Regierende Bürgermeisterin
im Jahr 2021. Das könnte ein Sprung-
brett sein – auch um dann nach dem
SPD-Vorsitz zu greifen.
Kommentar Seite 14
Franziska Giffey:
Die Familienministerin
lehnt eine Kandidatur
für den SPD-Vorsitz ab.
AFP
Die
Entscheidungen
über die
Zusammen -
setzung der
Kandidatenduos
sind gefallen.
Bernd Westphal
SPD
Branche Am 21./22. Oktober war
die erste bundesweite Runde für
die rund 580 000 Beschäftigten
der chemisch-pharmazeutischen
Industrie ergebnislos beendet wor-
den. Gemessen am Umsatz geht es
um die drittgrößte Industriebran-
che nach Auto- und Maschinenbau.
Forderungen Die Gewerkschaft IG
BCE fordert 1 000 Euro für jeden
Beschäftigten auf ein „persönliches
Zukunftskonto“, eine tarifliche Pfle-
gezusatzversicherung, eine Qualifi-
zierungsoffensive und eine spür-
bare Reallohnerhöhung. Die
Gespräche werden am 21./22.
November fortgesetzt.
Tarifrunde Chemie
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