Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1
Konjukturtief in Deutschland
WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211^43

... und plötzlich

ist Krise

Glaubt man den Experten, steckt Deutschland ab heute in einer
Rezession – und schon seit einem Jahr stagniert faktisch die Wirtschaft.
Die Bundesrepublik braucht ein neues Geschäftsmodell, sonst drohen
uns japanische Verhältnisse.

D


as silbergraue Gefährt, das an Ketten
durch die hohe Werkshalle schwebt,
sieht wie ein Prototyp des Batmobils
aus. Ein monströses Metallgerippe,
das später mal ein SUV werden soll.
Für wen die Geländewagenkarosserie gebaut wird?
Geheim. Fotos? Strengstens verboten – am Eingang
werden Besuchern die Smartphonekameras mit
Stickern abgeklebt. Eine Halle weiter wummert ei-
ne Stahlpresse, schneidet ein Laser hinter einer
Scheibe Bauteile zurecht, ziehen Schweißroboter
ihre Funkenbahnen. Nebenan stehen fertige Kotflü-
gel für das Coupé von Rolls-Royce. Es herrscht
Hochbetrieb bei der Edag Werkzeug + Karosserie
GmbH. In drei Schichten fährt der Autozulieferer
seinen Betrieb, rund um die Uhr.
Das Geschäft läuft rund bei dem Unternehmen
in Eisenach, dessen 250 Mitarbeiter Prototypen
bauen und Baugruppen für exklusive Pkw-Kleinse-
rien fertigen. Doch statt Zufriedenheit herrscht Sor-
ge. „Die Elektromobilität bietet eine riesige Chance
für uns Zulieferer, ist aber auch gleichzeitig ein Ri-
siko, das so in der Breite noch nie gehändelt wer-
den musste“, sagt Geschäftsführer Andreas Ritz.
Viele Zulieferer würden die aktuelle Gefährdung
nicht wahrhaben wollen. „Aber gerade sind alle
Alarmleuchten an. Wir sind erdrutschartig in eine
Lage gekommen, die niemand in der Industrie für
möglich gehalten hat.“
Ritz kennt sich aus in der Branche. Der studierte
Betriebswirt ist seit 20 Jahren im Unternehmen. In
all der Zeit mussten er und seine Kollegen noch
nie Kurzarbeit einführen. Selbst 2009, als die Welt-
wirtschaftskrise wütete, lief das Geschäft „zufrie-
denstellend“. Auch für 2019 gibt es keine konkre-
ten Planungen in Richtung Kurzarbeit. Aber: „Ak-
tuell setzen wir uns mit der Thematik
auseinander“, sagt Ritz, „um vorbereitet zu sein.“
Willkommen im vielleicht ungewöhnlichsten Ab-
schwung, den Deutschland je erlebt hat. Bereits
seit mittlerweile einem Jahr wächst die Wirtschaft
kaum noch. Reihenweise korrigieren die Unter-
nehmen ihre Gewinnprognosen nach unten und
kündigen Personalabbau an. Und mit dem zu Ende
gegangenen Monat Oktober befindet sich Deutsch-
land höchstwahrscheinlich offiziell in der Rezessi-
on. Die ist definiert als zwei aufeinanderfolgende
Quartale mit schrumpfender Wirtschaftsleistung
(BIP). Im zweiten Quartal war das BIP bereits um
0,1 Prozent gesunken. „Im dritten Quartal wird das
Bruttoinlandsprodukt wohl noch einmal zurückge-
hen“, sagen die Forscher vom Kieler Institut für
Weltwirtschaft (IfW) in ihrer aktuellen Prognose.
Das IfW erwartet ein Minus von 0,3 Prozent.
Noch sind sich die Wirtschaftsforscher einig,
dass es bereits 2020 schnell wieder bergauf geht,
ihre Prognosen gehen für das kommende Jahr von
0,6 bis 1,4 Prozent Wachstum aus (siehe Grafiken
auf Seite 45). Doch Vorsicht, die optimistischen
Vorhersagen stammen von denselben Experten,

die noch vor wenigen Monaten weitgehend ausge-
schlossen haben, dass es 2019 überhaupt zu einer
Rezession kommen könne.
Das eigentliche Problem benennt IfW-Chef Ga-
briel Felbermayr im Interview mit dem Handels-
blatt (siehe Seite 49), nämlich, „dass das Trend-
wachstum stetig zurückgeht, von etwa anderthalb
auf etwas unter einem Prozent. Wirtschaftliche
Schwächephasen werden damit häufiger.“
Wenn es die Bundesregierung unter Angela Mer-
kel jetzt nicht schafft, das Trendwachstum mit
entschlossenen Reformen wieder auf ein höheres
Niveau zu bringen, drohen Deutschland womög-
lich japanische Verhältnisse: zwar keine tiefe Re-
zession wie 2009, aber ein jahrelanges Stop-and-
go aus ökonomischem Stillstand und Miniwachs-
tum bei anhaltenden Nullzinsen, alternder
Bevölkerung und einer allmählich erlahmenden
Innovationskraft.
Doch woher soll dieser politische Reformwille
kommen, wenn andere Zahlen gleichzeitig Norma-
lität verheißen: Die Börsenkurse? Stabil. Die Ar-
beitslosenzahlen? Ebenso. Die Steuereinnahmen?
Steigen. Rezession fühlt sich eigentlich anders an.
Zehn Jahre nach dem ebenso jähen wie tiefen Kon-
junktureinbruch von 2009 erlebt Deutschland
diesmal eine Krise, die wie auf Katzenpfoten he-
ranschleicht.
Für eine Große Koalition, die ohnehin ins Wei-
ter-so verliebt ist, liegt es nahe, den aktuellen Ab-
schwung als ein vorübergehendes Phänomen ab-

zutun. Als eine überfällige Korrektur nach neun
Jahren Wachstum, der längsten Aufschwungpha-
se seit dem Wirtschaftswunder. Doch ein genaue-
rer Blick auf die Anatomie dieser Rezession
macht deutlich: Dies ist keine Signalstörung,
nach der die Fahrt in Kürze fortgesetzt werden
kann. Die Krise offenbart einige grundlegende
Schwächen des deutschen Geschäftsmodells: zu
exportlastig, zu abhängig von einigen wenigen
Branchen, zu wenig innovationsfreudig. „The
Sick Man of Europe“ („der kranke Mann
Europas“): So hat die Credit Suisse Anfang Okto-
ber eine schonungslose Analyse der deutschen
Volkswirtschaft betitelt. Vom Wachstumsvorrei-
ter, urteilen die Analysten der Schweizer Groß-
bank, sei die Bundesrepublik zum „großen Un-
derperformer der Euro-Zone“ geworden.
Wie konnte es so weit kommen? Die Analyse
dieser Krise neuen Typs beginnt dort, wo schlech-
te Konjunkturnachrichten üblicherweise zuerst
eintreffen: in den Zentralen der Konzerne.


  1. Die Unternehmen
    Es waren Schockwellen, die Martin Brudermüller
    Anfang Juli durch den BASF-Konzern und die ge-
    samte deutsche Wirtschaft sendete. Der Vorstands-
    chef des weltgrößten Chemieunternehmens, erst
    wenige Monate im Amt, musste bereits seine zwei-
    te Gewinnwarnung abgeben. 30 Prozent weniger
    Ertrag als erwartet, so kündigte Brudermüller an,
    werde das Unternehmen in diesem Jahr einfahren.
    Brexit, Handelskonflikte, Krise bei den Autokun-
    den – dieser Mix machte die bis dahin geltende
    Prognose zunichte, die sowohl Wachstum bei Ge-
    winn und Umsatz versprach.
    Damals vermuteten manche Analysten noch,
    dass der BASF-Chef die operative Latte bewusst
    niedrig gehängt hatte, um am Ende bequem darü-
    berspringen zu können. Doch heute, wenige Mona-
    te später, zeigt sich, dass Brudermüller richtig lag:
    Alle Hoffnungen auf eine Besserung der Konjunk-
    turlage in der chemischen Industrie haben sich
    seither nicht erfüllt. „Es gibt keine Anzeichen für
    eine Wiederbelebung des Marktes“, sagte er Ende
    Oktober bei der Vorlage der Zahlen zum dritten
    Quartal des BASF-Geschäftsjahrs.
    Große Chemieunternehmen wie BASF spüren
    die konjunkturellen Veränderungen sehr früh. Die
    Hersteller liefern Chemikalien und Kunststoffe in
    nahezu jede Branche und Region, ohne ihre Pro-
    dukte kommt praktisch kein Unternehmen in der
    verarbeitenden Industrie aus. Wenn sich die Kun-
    den zurückhalten, sehen das die Chemiefirmen in
    ihren Auftragsbüchern sofort. Als „Frühzykliker“
    bezeichnen Konjunkturexperten die Chemieunter-
    nehmen, weil Auf- wie Abschwung bei ihnen früher
    ankommen als beim Rest der Wirtschaft.
    BASF, Evonik, die Bayer-Spin-offs Covestro und
    Lanxess, dazu Tausende mittelständische Firmen:


Neuwagen-Verschiffung in
Bremerhaven: Deutschlands Schlüssel -
branchen reagieren empfindlich auf
politische Störungen der weltweiten
Handelsströme.

picture alliance / Ingo Wagner


Wir sind
erdrutsch-
artig in
eine Lage
gekommen,
die niemand
in der
Industrie für
möglich
gehalten hat.
Andreas Ritz
Geschäftsführer Edag
Werkzeug+Karosserie
GmbH in Eisenach
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