Focus - 09.11.19

(singke) #1

TITEL


Fotos:

Dagmar Schwelle/laif, dpa, Jens Koch, ddp images

144144 FOCUS 46/2019


Berlin, lässig Zugezogene und Zaungäste auf
der Admiralbrücke am Landwehrkanal, Kreuz-
berg 2016, die Herzkammer der Gentrifizierung



  1. Mai 2019
    Der legendäre DDR-
    Club 1. FC Union Berlin
    steigt zum ersten Mal
    in seiner Geschichte in
    die 1. Fußball-Bundes-
    liga auf

  2. Oktober 2019
    Wegen der akuten
    Wohnungsnot
    beschließt der Berliner
    Senat die Gesetzes-
    vorlage zum
    Mietendeckel

  3. März 2019
    Berlin begeht den
    Weltfrauentag. Es ist
    das erste deutsche
    Bundesland, das ihn
    zum gesetzlichen
    Feiertag erklärt hat

  4. Dezember 2017
    Bereits elf Jahre wird
    am BER gebaut.
    Der endgültige
    Eröffnungstermin soll
    nun aber wirklich im
    Oktober 2020 sein

  5. Oktober 2017
    Die letzte Maschine
    der Fluggesellschaft
    Air Berlin landet in
    Tegel. Zuvor hatte das
    Unternehmen
    Insolvenz vermeldet

  6. Januar 2017
    Die geplante
    Einweihung des
    Flughafens BER wird
    erneut abgesagt und
    auf das Jahr 2018
    verschoben

  7. Dezember 2016
    Der Islamist Anis Amri
    ermordet mit einem
    Sattelzug elf Besucher
    des Weihnachts-
    marktes auf dem
    Breitscheidplatz


Holger Friedrich: Der Westen hat eine
Grundstruktur definiert, was er als kor-
rekt und stilistisch ambitioniert empfin-
det. Dieser Kanon ist gefühlt beschränkt.
Das sieht man im alten Westen, auch in
Kreuzberg. Diese Sozialisation war das
„Borchardt“. Im „Grill“ hat man jedoch
die Nacht, die Halbwelt, das schwarze
Geld, das weiße Geld, das ganz große
Geld, die Wessis, die Ossis, die Interna-
tionalen, die Immobilienjungs, die Start-
ups und deren Financiers, die Künstler
sowie deren Galeristen – und man kann
sie nicht unterscheiden, sie gehen ega-
litär miteinander um. Das „Grill Royal“
ist der erste Punkt, an dem stilistische
Exzellenz in Berlin überlebt hat.
Lars Windhorst: Berlin hatte für mich
ganz klar das Potenzial einer internati-
onalen Weltstadt. Es sind grundsätzlich
alle Zutaten da. Aber es braucht einen
international wettbewerbsfähigen, aus-
reichend großen Flughafen.


Jürgen Leibfried: Ob der Flughafen typisch
für Berlin ist, weiß ich nicht. Andere
Städte haben auch viel Murks gemacht,
ich denke da nur an Hamburg und die
Elbphilharmonie. Der Wahnsinn beim
BER war, dass die einfach angefangen
haben zu bauen, ohne dass man detail-
lierte Ausführungspläne hatte. Stellen
Sie sich vor, Sie bauen ein Privathaus
und legen einfach los, bevor Sie ent-
schieden haben, ob es eine Tiefgarage
gibt, ob das Dach ausgebaut werden
soll und wie viele Fenster und Türen
das Objekt bekommen soll. Wenn dann
noch mehrere Leute darüber bestimmen


dürfen und in der Bauphase zwei-, drei-
mal ihre Meinung ändern, dann wird es
teuer, sehr teuer. Und dann dauert es
lange. Sehr lange.
Udo Walz: Mein Lieblingsplatz ist der
Gendarmenmarkt. Dieser Platz ist für
mich das wiedervereinigte Berlin.
Kool Savas: Ich mochte immer den Gen-
darmenmarkt, keine Ahnung, warum.

Leander Haußmann, 60,
Theater- und
Filmregisseur,
schenkte
Deutschland mit
„Sonnenallee“
eine frühe
Hommage

Leander Haußmann: In Friedrichshagen,
wo ich zum Teil lebe, da ist alles so
deutsch wie eh und je. Und am Prenz-
lauer Berg, wo ich in der Stadt wohne,
ist unten ein amerikanisches Edelres-
taurant. Da sprechen alle Englisch, aber
ich sehe darin eher eine Qualität. Es ist
immer noch dörflich, vor allem von den
Häusern her, man darf ja nicht in die
Höhe bauen. Das wirkt eher so wie ein
Suburb von Los Angeles. Ich liebe Berlin
vor allem deswegen, weil es so erreichbar
ist und ich mich heute auch sicher fühle.
Palina Rojinski: Das Schönste an Berlin
war immer die Freiheit, Raum und Zeit
zu haben, atmen zu können, nicht auf
die Uhr schauen zu müssen. Doch solche
Freiräume wurden in den vergangenen
Jahren noch einmal erheblich weniger:
einfach weil sich kaum noch jemand
diese Freiheit, die schlussendlich mit
Freiräumen, also Platz, beginnt, mehr
leisten kann.
Dimitri Hegemann: Ich betreibe einen
Club, um die Stadt etwas schräg zu hal-
ten. We must keep it weird. Es gibt sonst
kaum Brüche, und das ist langweilig und
macht einsam.
Kool Savas: Berlin als Mensch wäre hibbe-
lig, als wäre er die ganze Zeit auf Koks.
Und gleichzeitig wäre es jemand, der
ganz schnell in ein intensives Gespräch
mit dir eintaucht, nur um sich in der
nächsten Sekunde umzudrehen und zu
gehen.

Palina Rojinski: Ich habe nichts gegen
Zugezogene, die Porsche fahren und 3000
Euro Miete zahlen. Zumindest grund-
sätzlich nicht. Was mir jedoch Sorgen
macht, ist, wenn die Leute ab 21 Uhr
gegen Türen und Decken bollern und
ab 22 Uhr die Polizei rufen – nur weil
jemand wagt, auf dem Laptop Musik zu
hören. Wer aus Berlin ein zweites Mün-
chen machen möchte, soll einfach in
München bleiben. Schließlich ist es dort
auch schön.

Thilo Mischke, 38,
Autor und TV-
Abenteurer, wuchs
als Sohn einer
Buchhändlerin in
Friedrichshain auf,
war immer schon
Karl-Marx-Allee

Thilo Mischke: Als die Deutsche Wohnen
auf einen Schlag mehr als 750 Woh-
nungen auf der Karl-Marx-Allee kau-
fen wollte, markierte dies den Moment,
in dem Berlin verstand, dass genau das
nicht passieren darf: Die Allee solidari-
sierte sich, Nachbarn wurden zu Freun-
den, die sich gegen einen vermeintlich
übermächtigen Gegner rüsteten. Hier
wurde Widerstand zu Ungehorsam, der
dazu führte, dass ganz Deutschland
über die Frage diskutierte, wem Wohn-,
also Lebensraum eigentlich gehören
darf. Rote Flaggen, die aus Fenstern
gehisst wurden, erinnerten mich nicht
nur an früher, sondern wurden zum
Symbol für die zukünftige Geschichte
der Allee.
Udo Walz: Wenn ich die Augen schließe
und an Berlin denke, sehe ich vor mir den
Kurfürstendamm an einem Nachmittag
im Sommer.
Westbam: 1980, als ich mit 15 Jahren das
erste Mal in Berlin war, war die Stadt
für mich ein Sehnsuchtsort, der Frei-
heit verspricht. Aber das ist nicht die
Geschichte der Achtziger, das ist nicht
einmal die Geschichte des Jahrhunderts.
Das ging schon mit Friedrich dem Großen
los. Jeder soll nach seiner Façon glücklich
werden. Das war Berlin, ist Berlin und
das bleibt auch so. n

Anis Amri
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