Focus - 09.11.19

(singke) #1

TITEL


28


Wiedergeburt einer Weltstadt


Der Mauerfall war die Initialzündung für ein entfesseltes Berlin. Die Stadt entwickelt sich vom finanziellen Trauerfall zum


kulturellen und politischen Zentrum der Bundesrepublik. Wir blicken zurück auf die letzten 30 Jahre – eine Zeitreise


Holger Friedrich, 53,
Werkzeug-
macher aus
Berlin-Mitte,
verdiente Millionen
mit Software,
kaufte im Sommer
den Berliner Verlag


Holger Friedrich: Am 9. November 1989
war ich im Studentenwohnheim in Pots-
dam. Gemeinsam mit meinem Mitbewoh-
ner hörte ich die Nachricht im Radio: „Die
Mauer ist offen!“ Wir sind sofort mit dem
Zug von Potsdam nach Schönefeld an den
Grenzübergang Waltersdorfer Chaus-
see gefahren. Dort stellte ich fest, dass
mir mein Ausweis fehlte. In der Nacht
der Nächte! Ich Idiot! Nach Mitternacht
bin ich dann Richtung Prenzlauer Berg
getrampt, um in meiner Berliner Woh-
nung in Prenzlauer Berg zu übernachten.
Ein Trabi aus Frankfurt an der Oder hielt
und nahm mich mit. Die beiden Män-
ner wollten nach Westberlin fahren und
überredeten mich zum Grenzübertritt in
der Invalidenstraße, versteckt unter einer
Decke auf der Rückbank.


Maximilian Lenz,
54, kam Mitte
der Achtziger
nach Berlin und
wurde dort
als DJ und
Produzent Westbam
weltberühmt


Westbam: Ich saß mit meinem Bruder und
William Röttger, mit dem ich das Label Low
Spirit gegründet habe, im Wohnzimmer in
der Mommsenstraße. So wie die Zeiten
waren auch wir extrem politisiert. William
hatte, ganz 80er-Jahre-mäßig, einen Ein-
kaufswagen, in dem ein Fernseher stand,
und irgendwann kam noch ein zweiter
dazu, damit wir gleichzeitig Ost- und
West-Nachrichten sehen konnten. Zufäl-
lig haben wir die SED-Pressekonferenz
mit Günter Schabowski live gesehen, das
könnte ich zumindest schwören. Jeden-
falls weiß ich, dass wir uns angeguckt
haben, und ich meinte: „Das würde ja


heißen, die Mauer ist auf? Da müssen wir
unbedingt gleich hinfahren und schauen,
was passiert.“ Und mein Bruder meinte:
„Oh Mann, wir müssen doch morgen nach
München, und ich habe doch meine Hem-
den noch nicht gebügelt.“ Mein Bruder ist
dann bügeln gegangen, und der William
und ich sind zur Mauer.

Holger Friedrich: Etwas nach ein Uhr waren
wir drüben, der Trabi-Fahrer hat seinen
Mitfahrer und mich am Kurfürstendamm
rausgelassen. Dort griffen uns sofort ein
paar Ladys mit sehr hohen Schuhen und
blonder Mähne ab. In einer Querstraße
ging es in einen schummrigen Club, dort
wurden lustige Schlager gesungen, und
gleich als wir reinkamen, gab es hochpro-
zentigen Alkohol. Kaum ausgetrunken,
ging es weiter. Die Mädels waren chic und
wir binnen Minuten sturzbetrunken, und
es wurde sehr, sehr freizügig. Ich dachte:
Wenn das der Westen ist, ist es cool! Nach
einer weiteren Stunde, knutschend in der
Ecke, fiel uns auf: „Irgendetwas stimmt
hier nicht.“ Mein Kumpel murmelte plötz-
lich: „Guck dir die Kehlköpfe an, und
warum sind die Frauen überhaupt alle so
stark gepudert?“

Dimitri Hegemann, 65,
wusste wie kein
Zweiter den Berliner
Leerstand für
Exzesse zu nutzen.
1991 gründete
er den legendären
Club „Tresor“

Dimitri Hegemann: Ich kam gerade aus dem
„Risiko“, einem angenehmen Treff an den
Yorckbrücken, da hab ich ein Bier getrun-

ken, dummes Zeug geredet und ein biss-
chen geforscht. Alles, was draußen gerade
geschah, hab ich gar nicht mitgekriegt. Ich
parkte also auf der Köpenicker Straße vor
meiner Wohnung. Überall leere Parkplät-
ze. Auf einmal kommt eine Gestalt aus
dem Dunkel. Plötzlich waren es 15. Ich
habe sofort das Auto verriegelt, erkannte
sie dann aber, die Klamotten haben sie
verraten. Sie fragten mich, ob hier Marien-
born sei, und hielten mir einen Stadtplan
hin, auf dem Westberlin weiß war. Die
wollten ihre Tante besuchen. Von dem Tag
an war die Stadt verzaubert.

Andreas Mühe, 40,
Fotograf und Herz-
Berliner, arbeitet
sich wie kein
anderer deutscher
Künstler so ikonisch
wie erfolgreich am
deutschen Wesen ab

Andreas Mühe: Als es am Abend in der
„Abendschau“ hieß, die Mauer sei offen,
sind wir schlicht und einfach ins Bett
gegangen. Mutter und wir haben den
Mauerfall verpasst – unser erster gemein-
samer Besuch im Westen fand erst drei
Wochen später statt.
Holger Friedrich: Am nächsten Morgen
saß ich in der U-Bahn zurück Richtung
Schönefeld. Zur Mathe-Vorlesung in Pots-
dam kam ich rechtzeitig. Mein Auftritt war
ein Brüller, denn mein ausgewaschenes
Jeanshemd vom Vortag war immer noch
vollgeschmiert mit der Schminke der West-
Transen.
Dimitri Hegemann: Die Wendephase war
einzigartig. Berlin war ein Sammelbe-
cken für Querdenker, die nun gemein-
sam überlegten, wie man die Welt bunter,
schöner und friedlicher machen könnte.
Jeder hatte eine Idee, und plötzlich gab
es Räume. Und keine Sperrstunde. Geht
nicht gab es nicht. Oder man hat gar nicht
erst gefragt.
Westbam: Der Ostberliner Polizei war nach
dem Mauerfall überhaupt nicht mehr klar,
was sie verbieten konnte oder sollte. Die
Polizei in Westberlin war ja schon immer
sehr locker, aber im Osten war auf einmal
noch mehr möglich.

Berlin, zentriert Luftaufnahme der neuen Mitte
2019, davon hätte 1989 niemand geträumt
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