Focus - 09.11.19

(singke) #1
Angela Merkel
Seit 2005 ist
die promovierte
Physikerin Bun-
deskanzlerin. Im
Herbst 2018 gab
sie den Vorsitz
der CDU ab

46 FOCUS 46/2019

MEINUNG

In Erinnerung ist noch die
Berliner Runde, in der Ger-
hard Schröder partout nicht
verstehen wollte, dass er so-
eben Wahl und Amt verloren
hatte. Schon damals nahm
man nur dieses kurze, cha-
rakteristische Zucken um
ihre Mundwinkel wahr, das
man dann später noch ein-

Wann sieht es Angela Merkel endlich ein?


Je länger die Bundeskanzlerin im Amt ist, desto klarer wird: Besser wird es für


Deutschland nur, wenn sie geht, analysiert Bestsellerautor Manfred Lütz


E


s steht ein Elefant
im Raum – und
niemand redet da-
rüber. Die CDU
meldet die niedrigs-
ten Wahlergebnisse
aller Zeiten, erstmals in
70 Jahren Bundesrepublik
gibt es rechts von der Union
eine Partei, die einen Wahl-
sieg nach dem anderen ein-
fährt. Erfolge der Bundesre-
gierung sind im Land unbe-
kannt, die GroKo ist längst
keine große Koalition mehr.
Deutschland hatte in den
letzten Jahrzehnten noch
nie so schlechte Beziehun-
gen zu den anderen Ländern
der Europäischen Gemein-
schaft, und das Verhältnis zu
den USA und zu Russland ist
katastrophal. Auch die Aus-
sichten sind trübe. Bis 2021
will Angela Merkel als Kanz-
lerin amtieren, aber was poli-
tisch bis dahin erreicht wer-
den soll, ist unklar. Es gibt
keinen Plan.
Als Angela Merkel 2005
Bundeskanzlerin wurde,
konnten alle aufatmen. End-
lich war sie vorbei, die Zeit
der testosterongesteuerten
Machos. Helmut Schmidt,
Helmut Kohl und besonders
Gerhard Schröder hatten
vor allem gegen Ende ihrer
Amtsperioden auf viele mit
ihrem eitlen Machtgehabe
abstoßend gewirkt. Angela
Merkel war da ganz anders,
völlig uneitel, dabei hoch-
intelligent und ohne jedes
Bedürfnis nach sichtbarer
Machtdemonstration.

geduldet wird, aber nicht
das Aufbegehren gegen die
Macht. Außer Jens Spahn
ist es niemandem gelungen,
offenen Widerstand politisch
zu überleben.
Das ist der Hauptgrund für
die politische Erstarrung im
ganzen Land, auch in fast
allen anderen Parteien. Die
virtuose Handhabung der
Macht an sich ohne irgend-
eine inhaltliche Position hat
das demokratische Spiel
der Kräfte in Deutschland
in die Krise gestürzt. Von
Grünen und SPD-Mitglie-
dern und durchaus nicht von
CDU-Vertretern stammten
die herzlichsten „Nachrufe“
auf Angela Merkel, als die-
se erklärte, nach 2021 nicht
mehr als Kanzlerin zur Ver-
fügung zu stehen.
Das ist keine beiläufige
Beobachtung, sondern ein
Zeichen der tiefen Krise
des demokratischen Sys-
tems. Wenn es zwischen
den demokratischen Par-
teien keinen inhaltlichen
Streit mehr gibt, wenn es
nur noch um Macht geht,
wenn jedem bewusst ist,
dass FDP und Grüne keine
inhaltliche Opposition gegen
Angela Merkel darstellen,
sondern nachweislich bereit
waren, mit Begeisterung
unter Angela Merkel mit-
zuregieren, überkommt den
Bürger das Gefühl, dass er,
wenn er zur Wahl aufgeru-
fen wird, in Wirklichkeit gar
keine Wahl hat. Angela Mer-
kel trug in Situationen, in

»


Außer Jens
Spahn ist es

niemandem
gelungen,
offenen Wider-

stand politisch
zu überleben

«


mal sehen konnte, als Horst
Seehofer den ungelenken
Versucht machte, sie auf
offener Bühne abzukanzeln.
Angela Merkel empörte
sich nicht, sie ließ Gegner
kühl kalkuliert vor die Wand
laufen. Sie ist eine perfekt
funktionierende Machtartis-
tin. Weder Konrad Adenauer
noch Helmut Kohl haben
es geschafft, ihre innerpar-
teilichen Gegner so restlos
zu entmutigen wie Angela
Merkel. Adenauer klagt in
seinen Memoiren bitter
darüber, dass er Ludwig
Erhard, den er für unfähig
hielt, als Nachfolger nicht
verhindern konnte, auch
Kohl musste sich immer der
Biedenkopfs, Geißlers und
Süssmuths erwehren – mit
mehr oder weniger Erfolg.
Um Angela Merkel dage-
gen gibt es einen Cordon
kühler Rationalität, in dem
argumentativer Widerspruch

Von Manfred Lütz
Theologe und Psychotherapeut
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