Focus - 09.11.19

(singke) #1
KOLUMNE

FOCUS 46/2019 7

Den Autor dieser Kolumne erreichen Sie unter:
[email protected], Twitter: @janfleischhauer

Viele sind insgeheim froh,
die falschen Wähler los zu sein
JAN FLEISCHHAUER Illustration von Silke Werzinger


oben“ nicht die wirtschaftliche Elite gemeint ist. Gemeint
ist die Schicht von Leuten, die in den Medien, der Kultur
und den Hochschulen dominierend sind, also genau dort,
wo das rot-grüne Milieu besonders verankert ist. Das ist
eine schmerzliche Erfahrung für die Linke, die sich ja bis
heute als Anti-Establishment versteht. Dass man exakt
zu den Leuten gezählt wird, gegen die man doch immer
angekämpft hat, nämlich zu den Herrschenden, ist mög-
licherweise eine Erklärung, warum es so schwerfällt, die
Natur des Protestes zu verstehen.
Kulturell abgehängt kann man sich auch mit 100 000
Euro auf dem Konto fühlen. Die Zugehörigkeit zur Klasse
derjenigen, die den Ton angeben, bemisst sich nicht am

Einkommen, sondern daran, ob man die Codes beherrscht,
die eine Zugangsberechtigung signalisieren. Was hat man
sich nicht darüber lustig gemacht, dass sich Trump-Wähler
aus den Redneck-Staaten ausgerechnet in einem Bau-
löwen aus New York wiedererkannten. Trump, ein Außen-
seiter, hahaha, hieß es: Schaut doch nur mal, wie der lebt.
Tatsächlich ist Trump genau das, ein radikaler Außenseiter.
Ich war lange genug in New York, um beurteilen zu kön-
nen, wie tief die Verachtung der Elite für den Talmi-König
schon vor seinem Umzug ins Weiße Haus reichte.

V


on den sogenannten einfachen Menschen hat
man links der Mitte eher romantische Vorstellun-
gen, so nahe kommt man sich in der Wirklichkeit
ja nicht. So wie sich die Intelligenz den einfa-
chen Menschen vorstellt, ist er ein vielleicht etwas unge-
lenker, aber dafür mit einem Herz aus Gold gesegne-
ter Vertreter, der sich nichts sehnlicher wünscht als
Bildung, um seiner unverschuldeten Unmündigkeit
zu entkommen. Groß ist der Schock, wenn man
unter den Wohlmeinenden feststellen muss, dass
die Leute, die man an die Sonne der Aufklärung
heranführen möchte, daran gar nicht interessiert
sind. „Deplorables“ hat Hillary Clinton die Zurückge-
bliebenen genannt, die Kläglichen. Gibt es ein besseres
Wort, um die Verachtung zu beschreiben?
Ich habe neulich einen Bühnenabend mit Christian Ude
bestritten, dem langjährigen Münchner SPD-Oberbürger-
meister. Wir kamen dabei auch auf den Aderlass zu spre-
chen, den die Sozialdemokratie vor allem im Westen nach
rechts erlitten hat. Er sei sich nicht sicher, ob die SPD
die Leute, die sie an die AfD verloren habe, überhaupt
zurückhaben wolle, sagte Ude. In Wahrheit habe man sich
doch immer für diese Menschen geschämt, ihre als nicht
fortschrittlich genug empfundenen Ansichten, ihr aus lin-
ker Sicht anstößiges Verhalten.
Ich fürchte, Ude hat Recht, wenn er glaubt, dass vie-
le auf der Linken insgeheim ganz froh sind, die falschen
Wähler los zu sein. In der SPD sind sie jetzt deutlich weni-
ger, aber dafür sind die Verbliebenen alles anständige
Menschen, die noch morgens um drei fehlerlos aufsagen
können, wofür die Abkürzung LGBTQIA steht oder was
ein CIS-Mann ist. Ude hat übrigens jedes Mal mit weitem
Abstand vor seinem Herausforderer gewonnen, das letzte
Mal mit 66,8 Prozent der Stimmen. Er gehörte noch zu den
Linken, die sich nicht für ihre Wähler geschämt haben. Sie
haben es ihm mit Mehrheiten gedankt.n
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