Die Welt Kompakt - 18.11.2019

(Tina Sui) #1
E

s gibt offensichtlich et-
was zu feiern an diesem
Wochenende. Hinter
dem Brandenburger
Tor steht ein großer Globus, auf
den Videos projiziert werden sol-
len. Mit seinen Dreieckssegmen-
ten erinnert er an die Abhörstati-
on auf dem Teufelsberg, mit der
die Amerikaner im Kalten Krieg
in den Osten hineinhorchten wie
ein Lungenarzt in einen mori-
bunden Patienten. War ja so
schlecht, die Ostluft.

VON BORIS POFALLA

Für Fotografen können Smog
und Nebel willkommene Helfer
sein. Sie geheimnissen in den All-
tag etwas Unwirkliches hinein.
Auf der Fotografie „Winsstraße
mit Taube“ von Helga Paris ver-
schwinden die Häuser und Trabis
allmählich in einem weißen
Nichts. „Am Hackeschen Markt“
ducken sich 1982 graue Brand-
wände unter einem schmutzig
weißen Himmel. Die Zeit steht
still. Wenn man es wegen später

Geburt nie in diesen Staat ge-
schafft hat, dann kann man die
Aufnahmen zeitlich und räumlich
oft nur schwer einordnen. Die
vertrauten Marker der Popkultur
fehlen, die Frisuren haben eine
andere Evolution durchlaufen als
in der BRD, die Künstleraltbau-
wohnungen sind null repräsenta-
tiv und statt elektronischer Gad-
gets horten die Leute Bücher. Wo
sind wir? Die junge Ramona, die
vor einer mit rudimentärem
Graffiti bekritzelten, ziemlich
verfallenen Hauswand in der
Kollwitzstraße steht, die könnte
auch zwischen den Trümmerber-
gen der unmittelbaren Nach-
kriegszeit gelebt haben. Vittorio
De Sica fällt einem ein, Brassaï
und sein Paris der Dreißiger. Aber
das Bild ist von 1982, die Akade-
mie der Künste bewirbt damit ih-
re eben eröffnete Helga-Paris-
Ausstellung. Es ist die größte bis-
lang, in der Akademie am Bran-
denburger Tor sind 275 Werke zu
sehen und ein Dokumentarfilm.
Die Ausstellung findet statt im
Rahmen der Festivalwoche „

Jahre friedliche Revolution –
Mauerfall“: 100 Veranstaltungen,
sieben Orte, 3-D-Projektionen,
hassenichjesehen. Berlin zele-
briert sein Alleinstellungsmerk-
mal und die Republik verfällt in
einen kollektiven Bundespräsi-
dentensound. Helga Paris’ Werk
passt da eigentlich nicht hinein,
denkt man, wenn man die Bilder
abschreitet, es ist ein Gegenmit-
tel gegen alles Staatstragende.

Wer ist diese bemerkenswerte
Frau? Geboren in Pommern im
Jahr 1938, flieht Helga Paris als
Kind mit der Familie 1945 nach
Zossen und geht 1966 nach Ber-
lin. Sie studiert Mode, wird aber
lieber Fotografin. Paris, die mit
dem Maler Robert Paris verheira-
tet war, porträtiert in den
1970ern Nachbarn und Freunde
in ihrem neuen Kiez in Prenzlau-
er Berg, in dem damals fast aus-

Die Berliner Akademie der


Künste zeigt Bilder der


Fotografin Helga Paris.


So behutsam und eindrücklich


wie sie hat niemand auf die


DDR geschaut. Warum man


das sehen muss


KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,18.NOVEMBER2019 SEITE 20


AUSZEICHNUNGEN

Thalbach bekommt
Lubitsch-Preis

Die Schauspielerin Katharina
Thalbach wird für ihre Leis-
tung in der Musikkomödie
„Ich war noch niemals in
New York“ mit dem Ernst-
Lubitsch-Preis 2020 aus-
gezeichnet. Der Preis des
Clubs der Filmjournalisten
Berlin wird am 29. Januar
überreicht.

BERÜHMTER FOTOGRAF

Terry O’Neill
gestorben

Im Alter von 81 Jahren ist der
britische Fotograf Terry
O’Neill nach langer Krankheit
gestorben. In den 60ern galt
er als Chronist der „Swinging
Sixties“ in London, wo er
sich in der Welt von Musi-
kern, Models und anderen
Berühmtheiten bewegte. Er
porträtierte Schauspieler wie
Michael Caine, Sean Con-
nery, Audrey Hepburn, Eliza-
beth Taylor und Brigitte Bar-
dot und machte Aufnahmen
von Frank Sinatra.

KOMPAKT


W


annist eigentlich
der geeignete Zeit-
punkt für die Eröff-
nung eines Weihnachtsmark-
tes? Darüber wird in Deutsch-
land zurzeit erbittert gestrit-
ten. Der Interessenverband
der Glühweinkonsumenten
fordert, dass spätestens eine
Woche nach Ostern der erste
Markt seine Zapfhähne öffnen
sollte. Zum Gedenken daran,
dass Jesus heißes Wasser in
Glühwein verwandelt habe.
Religionsexperten zweifeln
diese Interpretation allerdings
an und empfehlen, dass die
Weihnachtsmärkte frühstens
am 1. Advent öffnen sollten,
denn Advent heißt Ankunft,
und das erinnert daran, wie die
Jünger damals auf die Ankunft
des ersten Glühweinstandes
gewartet hätten. Vertreter der
Kirche zeigen sich etwas über-
rascht von dieser Auslegung,
finden aber auch, dass es im
November noch zu früh für
Lustbarkeiten rund um den
glühenden Wein und die bren-
nende Mandel ist. Der Novem-
ber ist nämlich der Monat der
Stille und der Einkehr. Wir ge-
denken der Opfer von Hallo-
ween und kehren beim Dis-
counter ein, kaufenGlühwein
für 1,99 Euro und erhitzen ihn
in aller Stille zu Hause.

Zippert


zappt


Persönlichkeiten, nicht einfach nur Menschen: Ramona (aus dem
Jahr 1982) und Sven (aus dem Jahr 1981, später wurde der junge
Mann als Türsteher und Fotograf Sven Marquardt bekannt)

HELGA PARIS

(3)

Das


echte


Leben


sitzt


hinterm


Tresen

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