Süddeutsche Zeitung - 18.11.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
interview: meredith haaf

G


roße Nationalgeschichtsschrei-
bung ist derzeit nicht besonders an-
gesagt, auch nicht in den USA. Viel-
leicht kommt gerade deshalb „Diese Wahr-
heiten“, das große neue Werk der Harvard-
Historikerin und Journalistin Jill Lepore
(Verlag C. H. Beck,SZ vom 4. November)
zum richtigen Zeitpunkt. Lepore erzählt –
als erste Historikerin – die politische Ge-
schichte der USA von 1492 bis 2017. Ein Ge-
spräch über die lange Tradition polarisier-
ter Gesellschaften, das Problem mit der
Meinungsfreiheit und die Schwierigkeit,
Geschichte zu schreiben, die politisch,
aber nicht ideologisch ist.


SZ: Sie beginnen Ihre Geschichte Ameri-
kas klassisch mit Kolumbus. Warum nicht
mal früher oder später anfangen?
Jill Lepore: Die „Entdeckung“ Amerikas
durch Kolumbus ist ja offensichtlich eine
sehr belastete und komplizierte Geschich-
te, also ein problematischer Beginn. Aber
sie bildet den Untergrund für viele der poli-
tischen Konflikte, die seither in den USA
verhandelt werden: Wem gehört das Land?


Wessen Geschichte zählt? Mit welchem
Recht herrschen die einen über die ande-
ren? Es wäre ein natürlicher und auch sau-
berer Einstieg für eine politische Geschich-
te, mit der Unabhängigkeitserklärung am



  1. Juli 1776 zu beginnen. Vorher gibt es kei-
    ne USA, und danach gibt es sie. Aber das
    war nicht möglich, weil mich der Ursprung
    der Ideen interessierte, die in der Unabhän-
    gigkeitserklärung fest gehalten sind.


Sie meinen „Diese Wahrheiten“, auf die
auch der Titel anspielt?
Genau: Die berühmten Prämissen der Prä-
ambel, in der es um die Gleichheit aller
Menschen, ihr unveräußerliches Recht auf
Leben, Freiheit und das Streben nach
Glück geht.


Sie stammen aus dem Text von Thomas
Jefferson, einem der sogenannten Grün-
dungsväter. Was verbindet diesen Grund-
text der Aufklärung mit den indigenen
Völkern des 16. Jahrhunderts?
Diese Ideen sind eben nicht dem Geist Jef-
fersons entsprungen wie Athene aus dem
Kopf von Zeus. Sie haben eine Geschichte.
Versklavte Afrikaner und Vertreter der in-
digenen Bevölkerung sagen schon damals:
Du hast kein Recht auf mein Land, auf
mein Leben, meinen Körper, meine Kin-
der. Und sie rebellieren, sie führen Krieg,
sie laufen weg, sie vergiften ihre Herren –
dieses ganze Elend, das für uns 1492 an-
fängt, aber eigentlich mit dem portugiesi-
schen Sklavenhandel auf dem Atlantik ein-
setzt, ist auf schreckliche Weise begrün-
dend für die amerikanische Demokratie.


Ist Kolumbus das früheste Beispiel dafür,
wie die Wahrheit in Amerika im Dienst po-
litischer Interessen umgeschrieben wird?
Ja, weil Kolumbus ein Logbuch führte.
Darin steht: Diese Menschen sind nackt,
sie haben keinen Glauben. Das alles ist
nicht wahr. Aber er kann seine Wahrneh-
mung aufschreiben, und so wird sie zur
Wahrheit. Diese Diskrepanz eröffnet die
grundsätzliche Frage, wie man mit ande-
ren Menschen in einer Demokratie lebt.
Eine grundlegende Voraussetzung dafür
ist, dass man sich darauf einigt, was wahr
ist, dass man auch fähig ist, den Streit dar-
über zu führen, und dass es sehr wichtig
ist, wer kommunizieren kann.


Braucht Demokratie vor allem Wahrheit
oder Mehrheiten?
Sie braucht auf jeden Fall verlässliche
Wahrheitsfindungsprozesse. Ein Fall be-
reitete mir wirklich Kopfzerbrechen: 1925
wird in Tennessee ein Lehrer verurteilt,
weil er Evolutionstheorie unterrichtete.
Und die war in dem Bundesstaat per Ge-
setz verboten. Da stellte sich also die
Frage: Ist es legitim, das Ergebnis wissen-


schaftlicher Methoden zu ächten, wenn die
demokratische Mehrheit das so will? Es ist
ein bisschen eine Präfiguration der heuti-
gen Klimadiskussion. Die Mehrheit der
Amerikaner hat einen Klimawandelleug-
ner gewählt. Das macht sein Leugnen nicht
wahr. Aber es macht es schwieriger, sich
den Leugnern politisch zu widersetzen.

Kann es sein, dass politischer Aktivismus
heute oft eher am Richtigen interessiert
ist als am Wahren?
Ja. Ich arbeite gerade an einem Podcast zur
Frage: Wer hat die Wahrheit getötet? Es
gibt ziemlich viele Verdächtige. Die Bewe-
gung der Neokonservativen etwa hat sich
über Jahrzehnte darauf konzentriert, libe-
rale Institutionen, die freie Presse, die For-
schung, zu diskreditieren. Sie ist sehr er-
folgreich damit gewesen. Aber auch inner-
halb der akademischen Welt fand ein Pro-
zess der Selbstdelegitimierung statt. Post-
moderne Theorie besagt, dass Wissen sub-
jektiv ist; eine feministische Erkenntnis-
theorie arbeitet mit der Annahme einer
„persönlichen Wahrheit“. Auf der Linken
und der akademischen Linken hat eine Ent-
fremdung von der Wahrheit stattgefun-
den, und das hilft der Rechten.

Die amerikanische Redefreiheit geht zu-
rück auf das antiautoritäre Bestreben,
sich nicht von Kirche oder König den
Mund verbieten zu lassen. Wenn es aber
keine Autoritäten mehr gibt, die etwas
vorgeben können, weil jeder alles behaup-
ten kann: Was ist die Redefreiheit noch
wert?
Ja, das ist ein großes Dilemma. Als Histori-
kerin versuche ich, daran zu erinnern, dass
die Phrase „Free Speech“ von der Anti-
Sklaverei-Bewegung kommt. Die Free Soil
Party hatte den Wahlkampfslogan „Freie
Arbeit, freie Menschen, freie Rede“, weil es
damals im Kongress verboten war, das
Wort Sklaverei überhaupt zu nennen. Der
zutiefst emanzipatorische Hintergrund
dieser Forderung ist mir wichtig, weil
heute vor allem die Linke nach einem euro-
päischen Modell der Redebeschränkung
ruft.

Warum glauben Sie nicht daran?
Der aktuelle Präsident der USA sagt Dinge,
die bis vor ein paar Jahren als jenseits von
Gut und Böse galten. Und seine politischen
Gegner sind nicht fähig, sich damit ausein-
anderzusetzen. Es wird also darüber gere-
det, was er sagt, es wird sich davon distan-

ziert. Aber niemand geht darauf ein, was
hinter dem Zuspruch für diese unsägli-
chen Aussprüche steckt. Stattdessen
macht man sich über Trump lustig oder
schüttelt fassungslos die Köpfe. Darüber

vergessen viele, dass es auch noch die Mög-
lichkeit gibt, sich über die Gräben auszu-
tauschen. Menschen haben oft mehr ge-
meinsam, als man denkt, wenn man die Ex-
treme weglässt.

Es ist schon fast ein Allgemeinplatz, dass
westliche Gesellschaften gespalten seien
wie nie zuvor. Können Sie das als Histori-
kerin bestätigen?
Ich möchte da ein Korrektiv anbieten: In
den USA hat man die längste Zeit der Ge-
schichte einen sehr großen Teil der Bevöl-
kerung – nämlich schwarze Menschen –
aus der Politik ausgeschlossen. Das bedeu-
tet aber nicht, dass sie nicht da waren, dass

sie nicht Meinungen und Wut und Oppositi-
on hatten. Ich möchte dazu ermuntern, die
historisch entrechteten Gruppen als politi-
sche Parteien zu analysieren. Zwar ohne
Mandat, aber mit einem starken gemeinsa-
men Anliegen, nämlich Emanzipation.
Wenn sie sich organisieren könnten, wür-
den sie. Und sie haben auch einen enormen
Effekt auf die anderen. Man sollte immer
auch an diejenigen denken, die zur Gesell-
schaft gehören, aber entrechtet sind. Die
politischen Vorfahren unserer Gesell-
schaft sind die Vorfahren aller, die in der
heutigen Gesellschaft leben. Nicht nur die
der Weißen.

Sehen Sie sich dann in einer Tradition mit
Howard Zinn, der mit „Eine Geschichte
des amerikanischen Volkes“ ein Standard-
werk der Sozialgeschichte geschaffen
hat?
Zinn war eigentlich Politikwissenschaftler
und ein sehr mutiger Friedensaktivist. Aus
den Unruhen der Sechzigerjahren wollte er
eine neue Geschichte der USA schreiben.
Es ist eine zutiefst marxistische Geschich-
te des Landes, es geht also um Kapitalis-
mus als Unterdrückungsform. Aber er woll-
te auch die Geschichte des Genozids und
der Sklaverei erzählen. Ich mag sein Buch
überhaupt nicht.

Warum?
Vor allen unter jungen Leuten gilt es als Ab-
zeichen, Zinn gelesen zu haben, ein Hin-
weis darauf, dass man aufgeklärt und ein
kritischer Kopf ist. Doch Zinns Buch ist ein
sehr ideologisches Buch, in dem die ameri-
kanische Geschichte als eine Abfolge von
Verbrechen dargestellt wird. Es gibt dazu
auch rechte Pendants, in denen Amerika
von einem Heldenmoment zum nächsten
steuert. Ich fand, es war an der Zeit, ein
ganz anderes Buch zu schreiben, das all die
großartige Forschung der vergangenen
Jahrzehnte wiedergibt, was in Ethnologie-
Departments, in den Genderwissenschaf-
ten, in African-American Studies gearbei-
tet wird. Aber eben nicht, um am Ende Ri-
chard Nixon anzuprangern wie Zinn. Es ist
nicht mein analytisches Anliegen, die aktu-
elle konservative Bewegung anzuklagen.

Wobei Sie in den letzten beiden Kapiteln,
in denen Sie die Gegenwartsgeschichte ab
den Neunzigern erzählen, anders klingen.
Da schreiben Sie ziemlich polemisch über
das Übel sozialer Medien und den Nieder-
gang der Zeitungen, und auch über Oba-
ma und Trump.
Ich kann ziemlich unaufgeregt über Zeug
schreiben, das für mich wichtig gewesen
wäre, wenn ich 1840 gelebt hätte. Aber
wenn es um die eigene Zeit geht, ist das
sehr schwer! Ich habe darüber nachge-
dacht, meine eigene Haltung irgendwie
herauszunehmen. Aber die Wahrheit ist,
dass ich nicht die Perspektive einer Histori-
kerin auf das habe, was mich selbst be-
trifft. Ich würde sagen, wir wissen auch
drei Jahre nach Trumps Wahl nicht, was da-
mals eigentlich passiert ist.

Donald Trump ist mit dem Slogan „Make
America Great Again“ angetreten, Barack
Obama damals mit „The Change We
Need“. Beide Slogans setzen sehr dis-
parate Geschichtskonzeptionen voraus.
Wie wird Geschichte politisch instrumen-
talisiert?
Die Geschichtsauffassung der USA ist kom-
plett segregiert. Es gibt zwei konkurrieren-
de Narrative, die vor allem durch den Blick
auf die Gegenwart geprägt werden. Also
entweder: Alles war früher toll, und heute
ist alles schrecklich. Oder: Alles war
schrecklich, und wir müssen jetzt dafür
sorgen, dass es endlich besser wird. Wobei
man bei Obama sagen muss, dass er eigent-
lich genau das ablehnte. Er hat immer ver-
sucht, für beide Visionen zu argumentie-
ren. Das hat viele gestört, aber ich habe es
geliebt. Und das ist auch das, was ich mit
meinem Buch versuche, eine gemeinsame
Geschichte zu schreiben.

Also ist „Diese Wahrheiten“ ein politi-
sches Projekt?
Nein, denn ich verfolge kein politisches An-
liegen. Aber ich habe mich als Mitglied der
Zivilgesellschaft dazu verpflichtet gefühlt,
den Versuch zu diesem Buch zu wagen.

Diskret nimmt der Film Abstand von der
großenTragödie in seinem Zentrum. Ganz
winzig sieht man in der Ferne den Aufruhr
am Stausee, hört die panischen Rufe nach
einem Jungen, der leblos aus dem Wasser
gezogen wird und den seine Eltern dann
durch einen langen Tunnel ins Kranken-
haus tragen. Die Sache geht nicht gut aus.
Kurz darauf liegt die Mutter von Xing-
xing, vermutlich mit Beruhigungstablet-
ten betäubt, zu Hause auf dem Bett. Gele-
gentlich hallt ein feines Schluchzen durch
den einfach eingerichteten Schlafraum im
Arbeiterwohnheim, hier ein Wispern, dort
ein erschüttertes Raunen. Dann nimmt die
Familienchronik, die zugleich ein Histo-
rienpanorama ist, ihren Lauf.
Ausgehend vom Tod des kleinen Xing-
xing und den Schuldgefühlen seines Cou-
sins Haohao spürt der Film über mehrere
Jahrzehnte hinweg den Erschütterungen
nach, die sich durch ein dichtes Geflecht
von Freundschafts- und Familienbezie-
hungen ausbreiten wie die Ringe, die sich
im Wasser bilden, wenn man einen Stein
hineinwirft.
Dabei arbeitet sich der Film nicht chro-
nologisch durch den Lauf den Ereignisse,
sondern springt im Zickzackkurs durch
die Zeiten und zwischen den Orten hin und
her, von der großen Industriestadt im Nor-
den, aus der die Eltern des verunglückten


Kindes flüchten, in die kleine Hafenstadt
im Südosten, wo sie Zuflucht suchen, unter
lauter Fremden, die nichts wissen von ih-
rem Schicksal. Das ist zunächst ein biss-
chen verwirrend, doch es lohnt sich, den
ausgelegten Spuren zu folgen, immer
mehr Zusammenhänge herzustellen, bis
man am Ende wie ein Detektiv die verschie-
denen Teile zu einem großen Bild zusam-
menfügen kann.
In der ersten Szene des Films, die noch
vor dem Unglück am Stausee gezeigt wird,
in der Zeitachse aber danach liegt, sieht
man eine kleine Familie, die Mutter han-
tiert in der Küche einer einfachen Hütte,
der Vater kommt aus dem Bootsschuppen

herein, ihr halbstarker Sohn probt den Auf-
stand, ein Teenager eben, denkt man, bis
sich langsam aus den Tiefen der Familien-
geschichte ein viel größeres Trauma mate-
rialisiert. Der Sechzehnjährige heißt Xing-
xing, wie das verunglückte Kind, zumin-
dest nennen die Eltern Yaojun und Liyun
ihn so, in ihrer Sehnsucht nach einem Platz-
halter. In Kreisbewegungen dringt diese
epische Erzählung immer tiefer in die

Verstrickungen von privaten Schicksalen
und staatlicher Doktrin, von den Ausläu-
fern der Kulturrevolution in den späten
Siebzigerjahren bis zum modernen Wirt-
schaftsboom. Und mit jeder Wendung und
jedem Zeitsprung erschließen sich neue Zu-
sammenhänge.

Vor dem Unglück am Stausee wird Li-
yun ein zweites Mal schwanger. Als das in
der Fabrik auffällt, erzwingt ihre Schwäge-
rin, die nicht nur die Beauftragte für Famili-
enplanung im Betrieb ist, sondern auch die
Mutter von Xingxings bestem Freund
Haohao, eine Abtreibung, und sorgt da-

nach dafür, dass die gepeinigten Eltern ei-
ne Auszeichnung für die strikte Umset-
zung der Ein-Kind-Politik bekommen, ihr
perfider Versuch der Wiedergutmachung.
In drei kontemplativen Stunden entfal-
tet der Film die Lebenswelten dieser Men-
schen, breitet die komplizierten Struktu-
ren aus, die aus der unlöslichen Verqui-
ckung von Privatem und Politischem ent-
stehen. Das ist fein und unaufdringlich, so
genau und einfühlsam erzählt, dass man
sich dem Sog dieser Geschichte nicht ent-
ziehen kann. Viel hat das mit dem leisen
und wahrhaftigen Spiel von Jingchun
Wang und Mei Yong zu tun, die dieses Paar
mit ergreifendem Understatement verkör-
pern, dafür wurden sie auf der Berlinale
mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Die Art, wie sie den Verhältnissen mit in-
nerer Stärke und großer Demut trotzen,
steht auch für auch die Haltung von Wang
Xiaoshuai. Zusammen mit Jia Zhangke
(„Still Life“, „Asche ist das reinste Weiß“),
Lou Ye („Blind Message“) und Yinan Diao
(„Black Coal, Thin Ice“) gehört er zu einer
Generation von Autoren-Regisseuren, die
seit dem Ende der Neunzigerjahre einen
neuen, leisen, naturalistischeren Tonfall

in das chinesische Kino gebracht haben,
mit subtilen Formen der Kritik an nicht auf-
gearbeiteten, historischen Sünden und ge-
genwärtigen politischen und wirtschaftli-
chen Missständen.
Anders als Chen Kaige oder Zhang Yi-
mou protzt Wang Xiaoshuai nicht mit
wuchtigen Bildern und Motiven. Statt Ge-
schichten zu forcieren, lauscht die seismo-
grafische Handkamera des Südkoreaners
Kim Hyun-seok Gesichtern und Schauplät-
zen, weiten Landschaften und engen
Wohnräumen Lebensgefühle ab. Und der
thailändische Schnittmeister Lee Chatame-
tikool choreografiert die Teile dieses gro-
ßen Lebenspuzzles mit unaufdringlicher
Virtuosität, sanft rhythmisiert mit dem leit-
motivischen Einsatz des melancholischen
Liedes „Auld Lang Syne“, das Freundschaft
und Erinnerung beschwört. Diese Szene-
rien und Lebensläufe zu durchstreifen und
auf der Suche nach Orientierung und Er-
klärung all die kleinen, ausgestreuten
Zeichen zu lesen, bereitet enormes Vergnü-
gen. anke sterneborg

Di jiu tian chang, China 2019 – Regie, Buch: Wang
Xiaoshuai. Kamera: Kim Hyun-seok. Schnitt: Lee
Chatametikool.Mit: Jingchun Wang, Mei Yong, Liya
Ai, Jiang Du, Xi Qui, Zhao-Yan Guo-Zhang. Verleih:
Piffl Medien GmbH. 183 Minuten.

Vom Jungen, der vielleicht zweimal geboren wurde


WangXiaoshuais Film „Bis dann, mein Sohn“ malt eine epische Familientragödie als Porträt einer ganzen Epoche. Ein leises Meisterwerk


„Es gibt ziemlich


viele Verdächtige“


Die amerikanische Historikerin Jill Lepore hat eine Nationalgeschichte


der USA geschrieben. Im Gespräch erläutert sie, warum es die Wahrheit


in der Demokratie so schwer hat und warum Kolumbus’ Logbuch log


„Die Mehrheit der
Amerikaner hat einen
Klimawandelleugner gewählt.“

„Wir wissen auch drei Jahre
nach TrumpsWahl nicht, was
damals eigentlich passiert ist.“

Am Dienstag wurde der türkische Schrift-
steller Ahmet Altan erneut verhaftet – acht
Tage nach seiner Freilassung. Nun meldet
sich der Literaturnobelpreisträger Orhan
Pamuk zu Wort: Die Türkei müsse umge-
hend zur Rechtsstaatlichkeit zurück-
kehren, fordert er. SZ

U


m in der Türkei heute die Wahrheit
zu sagen, braucht man den Mut und
die Kraft, wie sie Ahmet Altan be-
sitzt. Mehr als drei Jahre saß Altan im Ge-
fängnis – aus politisch motivierten Grün-
den, ohne dass es glaubhafte Beweise gab.
Nach drei Jahren haben sie ihn freigelas-
sen. Doch nachdem sie feststellten, dass
dieser furchtlose Autor trotz des auf ihn
ausgeübten Drucks weiter mit beispielhaf-
tem Mut den Staat und die Regierung kriti-
sierte, warfen sie ihn wieder ins Gefängnis.

Es ist nicht akzeptabel, dass das Recht
auf diese Weise missachtet wird und die Ur-
teile des höchsten Gerichts so dreist mit Fü-
ßen getreten werden. Solange die systema-
tischen Ungerechtigkeiten gegen Altan an-
dauern und wir dazu schweigen, ist dies be-
schämend für uns und unsere Menschlich-
keit. Schlimmer noch ist, dass wir das Un-
recht als selbstverständlich betrachten
und es dadurch normalisieren.
Solange Altan in Haft bleibt, wird uns
dieses immer bizarrer werdende Unrecht
weiter vergiften.
Nach Altans Freilassung gab es eine Soci-
al-Media-Kampagne gegen ihn, die wieder-
holt dazu aufrief, ihn wieder ins Gefängnis
zu werfen. Dabei waren es gar nicht Altans
Worte, die diese Leute nicht akzeptieren
konnten. Es war sein mutiges und ent-
schlossenes Verhalten nach seiner Freilas-
sung. Für diejenigen, die ihrem Volk Angst
einflößen und durch Unterdrückung regie-
ren wollen, ist Ahmet Altan mit seiner Cou-
rage und seinem Charakter ein Hindernis.
Deshalb sehen sie keine andere Möglich-
keit, als erneut vom Unrecht Gebrauch zu
machen und ihn wieder ins Gefängnis zu
werfen.
Ahmet Altan muss freigelassen werden,
die Türkei muss wieder zu einer normalen
und gerechten Rechtsstaatlichkeit zurück-
kehren, so wie es das Volk verdient.

Aus dem Türkischen von Gökalp Babayiğit.

DEFGH Nr. 266, Montag, 18. November 2019 HF2 9


Die Arbeiterin Liyun erhält eine Auszeichnung: für die vorbildliche Umsetzung der
von der Partei propagierten Ein-Kind-Politik. FOTO: PIFFL MEDIEN

Lasst


ihn frei!


Ahmet Altan sitzt zu Unrecht
im Gefängnis.Von Orhan Pamuk

Feuilleton
DasFleischliche in der
Kunst: große Retrospektive
für Marsden Hartley 11

Literatur
„Mehr Gerechtigkeit!“:
Hans-Jochen Vogel über die
Preise von Grund und Boden 12

PolitischesBuch
Eine Geschichte der
„Ostarbeiter“, die der NS-Staat
unter Zwang rekrutierte 13

 http://www.sz.de/kultur

Ahmet Altan, geboren
1950 in Ankara, erhält
am 25. November den
Geschwister-Scholl-Preis
der Stadt München für
sein Buch „Ich werde die
Welt nicht wiedersehen“.
Er schrieb es im
Gefängnis.FOTO: GARY
DOAK/MAURITIUS/ALAMY

Die Hauptdarsteller erhielten den
Silbernen Bären der Berlinale

Mit jeder Wendung,
mit jedem Zeitsprung erschließen
sich neue Zusammenhänge

FEUILLETON


„Wem gehört das Land? Wessen Geschichte zählt?“ Jill Lepore untersucht Grundsatzfragen. FOTO: KAYANA SZYMCZAK / NYT / LAIF

HEUTE

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