Süddeutsche Zeitung - 18.11.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
„Pnima – Ins Innere“ hieß die erste Oper
vonChaya Czernowin, der in Haifa gebore-
nen Komponistin, erschienen im Jahr
2000 bei der Münchner Musiktheater-Bi-
ennale. Da zeigten Czernowin und ihr Re-
gisseur Claus Guth die Erinnerung eines
kleinen Jungen und seines Großvaters, die
in das Nachbeben des Holocaust verstrickt
waren. Kein Text, nur Musik und Bild.
Die „Pnima“-Idee ragt in Czernowins
vierte Oper „Heart Chamber“ hinein, die
jetzt an der Deutschen Oper Berlin uraufge-
führt wurde, ihre Farbenprozesse avant-
gardistischer Klangkunst, die ins Metaphy-
sische reichen. Erforschen will Czernowin
die „Herzkammer“ der Liebe, die schwieri-
ge bis gestörte Anziehung von einer Frau
und eines Mannes, die keinen Namen tra-
gen, nur „Er“ und „Sie“ heißen.
Eine Oper? In der Inszenierung Claus
Guths beginnt es wie eine Installation. Frau
und Mann sitzen stumm, weit voneinander
entfernt, auf zwei Stühlen im finsteren Büh-
nenraum, seitlich im Parkett agiert ein Kon-
trabassist (Uli Fussenegger) mit Pizzicato-
Figuren leise oder aggressiv, minutenlang.
Mann und Frau gehen regungslos nach
vorn. In fragmentierten Filmsequenzen
sieht man sie im Passantengetümmel lau-
fen. Die Drehbühne rotiert und zeigt eine
grob-moderne graue Bungalow-Architek-
tur mit hoher Freitreppe, auf der Menschen
auf und absteigen. Simuliertes Leben.
Der Regisseur Claus Guth und der Büh-
nenbildner Christian Schmidt versuchen,
der dramaturgischen Idee und den Klang-
prozessen der Komponistin eine Art Hand-
lung abzugewinnen. Guth bezeichnet sich
sogar als „Mitschöpfer“ einer Oper, die ei-
ne scheiternde Liebe untersuchen will.
„Heart Chamber“ scheint, was durch-
aus problematisch ist, zweigeteilt in Musik
und Drama, Idee und Aktion: „Es ist“, so
skizziert die Komponistin die Handlung,

„eine große Oper über die kleinsten physi-
schen und psychischen Veränderungen,
die zwei Fremde aufeinander zu und wie-
der voneinander wegbewegen auf ihrem
Weg“. Czernowin hat den Text und die Dra-
maturgie selbst entworfen, die Konstellati-
on einer Art Paartherapie.

Und die im traditionellen Sopranfundus
beheimatete Sopranistin Patrizia Ciofi
meistert die vokalen Brechungen aller Flüs-
ter- und Gesangstöne souverän. Ihr Part-
ner in dieser Liebe, die fahl im Ungefähren
bleibt, ist der in darstellerischen Herausfor-
derungen glänzende Dietrich Henschel.
Beiden sind Doubles innerer Stimmen zu-
geordnet, Noa Frenkel und Terry Wey, die
nur Klangfunktion in einer Versuchsanord-
nung erfüllen.

Die Stärke von „Heart Chamber“ ist
Chaya Czernowins märchenhaft raffinier-
te, präzise notierte Partitur, diktiert von ei-
ner empfindsamen musikalischen Fanta-
sie, die sich die Verästelungen im Wachsen
und Vergehen der Natur für ihr rauschen-
des Pandämonium der Klänge und Geräu-
sche ausersehen hat. Sie kombiniert den
von Johannes Kalitzke dirigierten Orches-
tersound mit einem im Raum postierten
Vokalensemble und einem Quartett aus
Percussion, E-Gitarre, Klavier und Saxo-
phon, gemixt mit der Live-Elektronik des
SWR-Experimentalstudios. Wer will und
kann, denkt an Luigi Nonos Klangmystik,
György Ligetis „Atmosphères“-Cluster
oder Helmut Lachenmanns verstörende
„Mädchen“-Oper. Die Komponistin trium-
phiert, auch in Ovationen, nach neunzig
pausenlosen Minuten.
Aber mit dem Libretto und der Drama-
turgie hat Czernowin, die an der Harvard
University lehrt, auch ein Problem geschaf-
fen. Da sie nur die innere Struktur, nicht
die Psychologie der Liebesbeziehung zeigt,
bleibt die „Geschichte“ in dieser Herzkam-
mer eine kühle Versuchsanordnung des
Möglichen, die kaum einen Sog entwickeln
kann. Das symbolhafte Bühnengeschehen
sowie die wesenlosen Filmsequenzen ver-
stärken nur das etwas altmodische Prinzip
der Leere.
Nietzsche ergänzend will „alle Lust“ ne-
ben der „Ewigkeit“ drinnen Sinnlichkeit
draußen. Das am Ende schablonenhaft wir-
kende Bühnengeschehen kann das Defizit
im Seelischen erst recht nicht aufwerten –
abgesehen davon, dass dem auch in den
Textkürzeln waltenden traditionellen Ge-
schlechter- und Paarverständnis nichts
entgegengesetzt wird. „I love you“ flüstert
die Frau jäh am Schluss – sei es in Selbst-
vergewisserung, Demut, Verzweiflung
oder Trauer. wolfgang schreiber

Mann, Frau, eine Schablone


Chaya Czernowins vierte Oper „Heart Chamber“ in Berlin uraufgeführt


von jonathan fischer

E


in Besuch der Loveparade sollte für
Raoul Konan N’Dah Kouassi alles än-
dern – seine musikalischen Vorlie-
ben, seinen Berufswunsch, das Bild, das
der junge ivorische Einwanderer von
Deutschland hatte. Berlin, Juli 1998: Ko-
nan hatte sich von seiner deutschen Freun-
din überreden lassen, sich der Straßenpar-
ty der Technojünger anzuschließen: „Die-
se Freundlichkeit, dieser Enthusiasmus,
dieses Gefühl, zu einer großen Familie zu
gehören! Das hatte ich als Ausländer in
Deutschland noch nie erlebt“, schwärmt
Konan. Er lächelt vorsichtig, als ob er die-
sen Wendepunkt seiner Biografie noch im-
mer nicht ganz fassen könne.
Mit elektronischer Musik kannte er sich
überhaupt nicht aus. „Aber ich wollte auch
zu dieser Welt der Liebe gehören“, sagt er
in norddeutsch-ivorischem Akzent. „Ich
schaute zu den DJs auf – und wollte so sein
wie sie.“ Wie ernst es ihm war, realisierte
Konans Umgebung wohl erst, als er einen
Kredit aufnahm um Technics-Plattenspie-
ler und ein Mischpult zu kaufen. Den Rest
seines Geldes ließ er im Hamburger Plat-
tenladen „Underground Solution“.
Konans Vorgehensweise mag rückbli-
ckend naiv erscheinen, aber der Erfolg gibt
ihm recht. Zwei Jahrzehnte später ist er un-
ter dem Alias Mr Raoul K ein international
gefragter DJ und gilt als Pionier eines neu-
en Genres: Afro-House, der Verbindung
der Ende der Siebzigerjahre in Chicagoer
Schwulen-Clubs entstandenen House-Mu-
sik mit analogen afrikanischen Instrumen-
ten. Mit eigenen Produktionen, dachte Ko-
nan zunächst, könnte er mehr DJ-Buchun-
gen bekommen. Dann stellte sich ihm die
Frage: Wie kann ich mich und meine Ge-
schichte in meinen Sounds repräsentie-
ren? Deshalb übte der gelernte Zimmer-
mann, Instrumente wie Kora und Ngoni zu
spielen. Kompliziertere Parts ließ er in ei-
nem Studio in Abidjan einspielen und bear-
beitete sie im Dachgeschoss seiner Lübe-
cker Wohnung. Tagsüber Zimmermann,
nachts DJ und Musikproduzent – das war
bis vor wenigen Jahren Konans Leben.

Mr Raoul K steht dafür, wie Migration
den Pop in Deutschland und Europa verän-
dert. Das bedeutet aber nicht, dass er nicht
hart für seine Anerkennung kämpfen
musste: Kein House-Label wollte seine Mu-
sik verlegen. Dann drohte er an Landsleu-
ten der Elfenbeinküste zu scheitern: Als er
das erste Mal für Aufnahmen nach Abidjan
flog, hatte Konan – „so deutsch ticke ich
schon“ – die heimischen Musiker im Vor-
aus bezahlt. Dann wartete er vor dem Stu-
dio. Eine Stunde, zwei Stunden, am Tele-
fon hieß es „ich bin unterwegs“. Schließ-
lich musste er mit leeren Händen nach
Deutschland zurückkehren.
2008 erschien dann doch Mr Raoul Ks
erste EP „Le Cercle Peul“. Peul, das ist der
französische Name für die Fulbe oder Fula-
ni, eine vor allem in Mali ansässige Ethnie,
von der sich Konan musikalisch inspiriert
fühlte. „Abidjan ist ein Knotenpunkt ver-
schiedener Kulturen. Und ich hatte dank
der Freundin meines Bruders schon im-
mer malische Popmusik gehört.“
Seitdem wendet er sich mehr und mehr
von seinen westlichen Vorbildern ab: Er
fährt den housetypischen Basskick zurück
und überlässt den Puls westafrikanischen
Instrumenten wie Ngoni, Kora und Tal-
king Drum. DJ-Größen wie Gilles Peter-
son, Joe Claussell oder Dixon werden auf
ihn aufmerksam. Sie machen seine Stücke
zu Club-Hits und bescheren Mr Raoul K
den Status eines unter Kollegen respektier-
ten Originals, eines „musicians musician“.

Konan aber ist nicht auf den schnellen
Hit aus: Drei Jahre, sagt er, habe er an sei-
nem neuen Album gebastelt. Man hört „Af-
rican Paradigm“ (Compost) diese Sorgfalt
an. Nie klang Mr Raoul Ks Afro-House-Fu-
sion organischer. Nie hat er – von Bambara-
Chants über geisterhafte Stimm-und Ge-
räusch-Samples bis zu dem 28 Minuten
langen, von einem tschadischen Gitarris-
ten getragenen Titelstück – mehr Freiheit
und Experiment in seine Musik gebracht.

Aber drehen wir die Platte ein Stück zu-
rück: 1992 kam der 16-jährige Raoul Ko-
nan mit seinem Zwillingsbruder Modeste
als Asylsuchender in Deutschland an. Die
Elfenbeinküste war in einen Bürgerkrieg
geschlittert, Schulen und Geschäfte blie-
ben geschlossen, während sich rivalisieren-
de Milizen blutige Gefechte lieferten.
Da schickte ein älterer Bruder, der sich
gerade in Hamburg aufhielt, Flugtickets –
und die Zwillinge landeten in einer Welt,

von der sie keine Ahnung hatten. Sie lern-
ten Deutsch, besuchten deutsche Schulen,
spielten Fußball, träumten von einer Profi-
Karriere in einem deutschen Verein. Nach-
dem er eine Deutsche geheiratet hatte, zog
Konan 1999 nach Lübeck, kickte beim
Drittligisten VfB Lübeck. Zwei Knie-OPs
machten diese Karriere kurz vor dem Auf-
stieg in die zweite Liga zunichte.
Diese Geschichte muss man erzählen,
weil Fußball neben Musik die vielleicht

wichtigste Integrationsmöglichkeit des
bunten Deutschland ist. Nur funktioniert
Club-Kultur anders als das Spiel auf dem
Rasen. „Bei meinen ersten DJ-Gigs in
Lübeck“, erinnert sich Konan, „spielte ich
den Saal leer. Ich war denen zu experimen-
tell.“ Noch im Jahr 2007 sei die Vorstellung
afrikanischer Instrumente in der elektro-
nischen Musik für viele eine Zumutung
gewesen. Und Konan hatte keine Ahnung
von Promotion und Vertrieb. Die 600 pri-
vat gepressten Vinylplatten seines De-
büts blieben im Wohnzimmer liegen. Bis
sein Lieblingsplattenladen Underground
Solution die Scheiben aufnahm. Inner-
halb von zwei Wochen waren sie ausver-
kauft, DJs hievten sie weltweit auf ihre
Playlists, und Konan musste drei Auf-
lagen nachpressen.
Mit seinem neuen Album „African Para-
digm“ zielt Mr. Raoul K nicht mehr primär
auf den Dancefloor. Zu Ambiente, Melo-
dien, Songwriting kamen später die hand-
eingespielten Beats. Schicht für Schicht
baut das Album ein berauschend-komple-
xes Bild des modernen Afrika auf – mit
treibender Perkussion, tanzenden Flöten,
ostafrikanischem Mbira-Fingerklavier,
senegalesischer Talking Drum, einem
tschadischen Gitarristen und elektroni-
schen Effekten. Wichtiger noch: Der von
drei Vokalistinnen getragene Gesang – mit
Botschaften, die Konan freimütig auf den
Einfluss von Bob Marley und dessen Rasta-
Philosophie zurückführt.

Auch er wolle mit seiner Musik Gerech-
tigkeit einfordern, den Ungehörten eine
Stimme geben: „Die afrikanische Demo-
kratie ist gescheitert“, übersetzt er die
Chants von „Africans In Deep And Dance“,
„die afrikanische Unabhängigkeit ist eine
Illusion. Du riskierst als Oppositioneller
dein Leben, während viele Regierungen als
Marionetten der ehemaligen Kolonial-
mächte agieren.“ Das klingt politischer als
das Gros der House-Musik – und radikaler
als afrikanischer Pop.
Konan hat sich damit angefreundet, zwi-
schen den Kulturen zu stehen. Analog zu
den in Afrika populären Waxprint-Stoffen
mit ihren aus Holland stammenden und
von javanischem Handwerk inspirierten
Designs, schöpft Mr Raoul Ks Musik aus
dem globalen Ideenaustausch, der Essen-
zialismen hinter sich lässt. „Alle kulturel-
len Praktiken und Objekte sind mobil“,
schreibt der ghanaisch-britische Philo-
soph Kwame Anthony Appiah in seinem ak-
tuellen Buch „Identitäten“. Aneignung als
Voraussetzung kulturellen Fortschritts?
Ja, sagt Appiah, solange sie den Urhebern
Respekt zollt. Konan sagt: „Kultur ist eine
Haltung, keine Verkleidung.“
Als Nächstes plant der DJ eine Live-
Band mit afrikanischen Musikern für so-
wohl Techno- als auch Jazz-Bühnen. Gilles
Peterson habe ihn für sein Worldwide-Fes-
tival angefragt, wobei er dann möglicher-
weise aus Abidjan anreisen wird. Nächsten
Sommer plant er umzuziehen, zusammen
mit seiner deutschen Frau und seinen drei
Kindern, dorthin, wo sein Zwillingsbruder
und seine Herkunftsfamilie leben.
Hat ihn Deutschland enttäuscht? Abge-
sehen von dem Stress mit der deutschen
Bürokratie habe er ein gutes Leben gehabt,
sagt Konan, er strebe aber eine Trainerkar-
riere an und sei hier im Gegensatz zu vielen
deutschen Kollegen als Fußballtrainer im-
mer gedeckelt worden. In der Elfenbein-
küste hofft er auf eine Anstellung in der ers-
ten Liga. Seiner DJ-Mission will er treu blei-
ben: „Ich möchte die elektronische Musik
in Westafrika bekannt machen. Die haben
dort noch zu viele Vorurteile – weil sie nur
David Guetta kennen.“

Das Videospiel „Fortnite“ hat für die Kin-
der undJugendliche von heute in etwa die
gleiche Strahlkraft wie dieBeatles, Michael
Jackson und Justin Bieber zusammen. Zu je-
der Zeit sind mehrere Millionen Spieler on-
line und versuchen, sich gegenseitig abzu-
murksen. Doch es geht nicht nur um Sieg
oder Niederlage. Sondern auch um Stil.
Man kann eine Spielfigur ausstaffieren,
sodass sie aussieht wie ein Pandabär oder
ein Killerroboter. Für die begehrtesten Kos-
tüme muss man allerdings mit der spiel-
eigenen Währung namens V-Bucks löhnen.

Der Wechselkurs zum Euro beträgt unge-
fähr 100 zu eins, für die teuersten Verklei-
dungen werden bis zu 2500 V-Bucks abge-
rufen. Der Handel mit digitalen Waren
bringt dem Anbieter Epic Games bis zu
300 Millionen Dollar monatlich ein. Weil
Kinder nun mal Menschen in ihrer Rein-
form und deshalb auch ab und zu grausam
sind, werden, berichtet die New York
Times, Spieler, die sich teure Skins nicht
leisten können, von Altersgenossen gehän-
selt wie früher wegen fehlender Marken-
klamotten auf dem Schulhof.
Die Sehnsucht nach digitaler Distinkti-
on haben die Jugendlichen aber beileibe
nicht exklusiv. Gestandene Erwachsene
warten verzweifelt auf einen blauen Haken
auf Twitter, um unter Millionen Nutzern
den Nachweis ihrer Einzigartigkeit zu ha-
ben. Zwar ist man bei der Vergabe mehr
oder weniger auf die Willkür der Plattform
angewiesen, aber immerhin ist das Status-
symbol gratis.
Ganz anders funktioniert da schon Su-
perhuman. Die E-Mail-App ist im Tech-
Volk momentan enorm hip und berechnet
für ihre Dienste 30 US-Dollar pro Monat.

Bis auf ein paar neue Tastenkombinatio-
nen und angeblich schnelleres Tempo gibt
es zwar kaum einen Mehrwert, trotzdem
stehen nach Angaben der Macher mehr als
100000 Menschen auf der Warteliste für
ein Produkt, das man so ähnlich an jeder
Ecke im Internet gratis bekommt. Wobei
man den Platz dort nur auf persönliche
Empfehlung von Menschen bekommt, die
schon drin sind.
Dabei ließe sich ein digitales Produkt
prinzipiell beliebig vervielfältigen. Die Tat-
sache, dass man nun auch im Netz durch
künstliche Verknappung und gefühlte Ex-
klusivität hohe Preise verlangen kann, ließ
die Risikokapitalgeber im Silicon Valley
aufhorchen. Superhuman wird mittlerwei-
le mit mehr als 200 Millionen Dollar bewer-
tet, und sogenannte Luxury Software lo-
dert heiß in den Start-up-Schmieden. Für
so gut wie jedes banale Programm, heißt es,
gibt es inzwischen ein Superhuman-Äqui-
valent. „Es gab schon immer Louis- Vuitton-
Handtaschen“, so einer der Investoren.
„Und jetzt gibt es eben auch Software, die
den Menschen das gleiche Gefühl gibt.“
Zurück zu den Klamotten. Wie die BBC
berichtet, ist „Digital Fashion“ auch unter
gewissen Erwachsenen der letzte Schrei.
Nur benutzen sie die Pixel-Outfits nicht in
Videospielen, sondern in dem ungleich
komplizierteren Spiel namens Gesell-
schaft. Für ein paar Tausend Dollar kann
man bei dem Unternehmen The Fabricant
Bilddateien erwerben, die nur ein Kleid ent-
halten: mal irisierend wie Schmetterlings-
flügel, mal der Gravitation trotzend. Etwas
günstiger ist die „Digital Collection“ des
Streetwear-Labels Carlings. Für nur 20 Dol-
lar kann man sich dort virtuelle Jeans kau-
fen, die Dateien werden dann einfach auf
die Fotos der, nun ja, Träger montiert.
Nach nur einem Monat war das Sortiment
„ausverkauft“. michael moorstedt

Ngoni üben in Lübeck


Gerechtigkeit, nicht nur auf dem Dancefloor: Der deutsch-ivorische


Afro-House-Pionier Mr Raoul K und sein Album „African Paradigm“


Das Ende der Welt kommt eher sanft in
„Night of the Comet/Der Komet“, einem
unabhängig produzierten Sience-Fic-
tion-Film von Thom Eberhardt aus dem
Jahr 1983. Der Komet ist gar nicht auf
Crashkurs, er zieht elegant an der Erde
vorbei, und das Event wird auf den
Straßen in ganz Amerika gefeiert. Nur
Regina ist nicht dabei, sie jobbt in ei-
nem Kino in L.A. und zieht sich für die-
se Nacht mit Larry, dem Vorführer, in
die Vorführkabine zurück. Zum Glück.
An der Tür hängt ein altes Filmplakat,
Red Dust, ein Klassiker mit Clark Gable
und Jean Harlow. Zu rotem Staub ist am
nächsten Morgen auch all das feierwüti-
ge Volk zerfallen, nachdem es mit den
Ausdünstungen des Kometen in Kon-
takt kam, andere sind zu Zombies mu-
tiert. Auch ein paar kranke Wissen-
schaftler sind im Spiel, darunter: Mary
Woronov. Ein giftiges Morgenrot liegt
über der Stadt. Regina und ihre Schwes-
ter Samantha suchen überlebende Mit-
menschen für die Zukunft der Mensch-
heit. Sie tummeln sich in leeren Mode-
boutiquen, können aber auch souverän
mit Schusswaffen hantieren, der Vater
ist Soldat. Catherine
Mary Stewart und Kelli
Maroney sind die zwei
Teenager, mit unver-
wüstlicher Farah-Faw-
cett-Haarpracht, gegen
ihren heiteren Hedonis-
mus kommt kein Hor-
ror an. (Koch Films)


Die Überforderung alleinerziehender
Mütter ist die Basis des Horrors in „Llo-
ronas Fluch“ von Michael Chaves, pro-
duziert vom jungen Horrormeister, von
James Wan. Llorona hat ihre Kinder
getötet, aus Eifersucht, nun irrt sie
durch ein L.A. der Siebziger. Eine Mut-
ter kämpft gegen sie, nur ein Geistli-
cher steht ihr zur Seite, er verwandelt
ein ganzes Schwimmbecken in Weih-
wasser. (Warner)


Der Schrecken kommt auch bis San
Francisco, in „Jagd auf einen Unsichtba-
ren/Memoirs of an Invisible Man“,
1992, von John Carpenter. Chevy Chase
als Nick Halloway, Finanzberater, Möch-
tegernplayboy, ein fürchterlicher Typ.
Bei einem Unglück in der Firma, ausge-
löst durch einen verschütteten Becher
Kaffee, wird er unsichtbar. Sam Neill
macht als CIA-Mann Jagd auf ihn, ein
Unsichtbarer ist von größtem Wert im
Spiel von Politik und Wirtschaft, für die
Deutschen, die Japaner, die Saudis.
Neill ist von wunderbar boshafter Herz-
lichkeit, er will Chevy Chase reinholen
in die Familie.It‘s lonely when you are a
freak.John Carpenter ist es nicht wohl
mit diesem Helden, er mag die prolligen
Typen, Kurt Russell, Snake Plissken, die
Klapperschlange. (Koch Films)


Prolls im Weltraum, „High Life“, von
Claire Denis. Ein Raumschiff, unter-
wegs zu einem Schwarzen Loch, viel-
leicht kann man dort Energie abzapfen.
Eine Reise ohne Wiederkehr, Aggressio-
nen reisen mit. Die Besatzung besteht
aus Sträflingen, meist Todeskandida-
ten, Lars Eidinger, Robert Pattinson,
Juliette Binoche. Die experimentiert im
All. Nach ein paar Jahren ist nur noch
Pattinson am Leben, mit seiner Tochter
Willow. Die erlebt man erst als Baby,
später als junge Frau. Das letzte Paar?
Das Schiff ist düster, unwohnlich, Ola-
fur Eliasson hat bei der Ausstattung
beraten. Die Einsamkeit meistern heißt,
den Dingen nah zu sein, die uns nicht
verlassen werden. Die Gefühle sind, wie
immer bei Claire Denis, dann doch stär-
ker als jedes gesellschaftliche, morali-
sche System. (Pandora)


Das Prollstudio im klassischen Holly-
wood war Warner Brothers. 1935 wurde
hier „Black Fury/In blinder Wut“ produ-
ziert, Regie Michael Curtiz. Schwarz ist
der Furor vom Kohlestaub in einer klei-
nen Minenstadt in Pennsylvania, viele
der Arbeiter sind slowakischer Her-
kunft. Sie werden in fiese Arbeitskämp-
fe verwickelt, es wimmelt von Streikbre-
chern und dubiosen Polizisten. Auch
Joe Radek stolpert in dieses Komplott,
der große kleine Mann der Siedlung.
Paul Muni spielt ihn, der große Star der
Dreißiger, er hat für Warner Pasteur,
Zola, Juarez, Napoleon, Franz Schubert
verkörpert und war der erste Scarface
der Kinogeschichte.
Das Gangstertum als
Vorstufe der amerikani-
schen Gewerkschaft.
Am Ende muss Joe
Radek allein in den
Schacht, mit einer
Ladung Dynamit. (Stu-
dio Hamburg)


Mittelstandsmisere in Frankreich: „Ein
Becken voller Männer“ von Gilles Lellou-
che. Um anzugehen gegen die Depressi-
on, trainieren ein paar ramponierte
Männer, darunter Mathieu Amalric und
Jean-Hugues Anglade, Synchron-
schwimmen! Die Trainerin liest ihnen
Verlaine und Rilke vor: Eines Nachts
stehen Amalric und seine Frau vor ih-
rem Haus, ihre Schwester und deren
Mann sind eben davongefahren, ein
unausstehliches Paar, nach einem fürch-
terlichen Abend. Ich bin ein schreckli-
cher Mensch, gesteht
sie, und beide haben
die gleiche Vision: Ein
Komet trifft, paff, den
BMW der Schwester,
Explosion, Schreie,
Flammen. Alle tot!
(Studiocanal)
fritz göttler


NETZKOLUMNE


Des Kaisers neueste Kleider


VirtuellerMehrwert jetzt auch im Luxussegment


Eine Art Paartherapie: Christian
Schmidts Bühnenbild wirkt wie eine In-
stallation. FOTO: MICHAEL TRIPPEL

Das klingt politischer als das
Gros der House-Musik und
radikaler als afrikanischer Pop

Die Komponistin triumphiert,
schafft sich aber auch Probleme

Er fährt den Basskick zurück
und überlässt den Puls
westafrikanischen Instrumenten

10 HF2 (^) FEUILLETON Montag, 18. November 2019, Nr. 266 DEFGH
„Kultur ist eine Haltung, keine Verkleidung“, sagt der House-Produzent Raoul Konan. FOTO: GONEPHOTOGRAPHY
MEDIA PLAYER

Free download pdf