Handelsblatt - 18.11.2019

(Tina Meador) #1
stellungen, die die russische Zentralbank verlangt,
und die den profitabelsten Teil des Bankgeschäfts
belastet: das Privatkundengeschäft.

Hat die Zentralbank nicht gute Gründe für ihre
Eingriffe?
Gründe sind ja immer da (lacht). Aber wir sind
der Meinung, dass wir nicht in einer Phase sind,
in der eine strengere Regulierung auf dem Privat-
kundenmarkt nötig wäre. Wir glauben, dass der
Markt mehr vertragen könnte. Aber die Zentral-
bank hat begonnen, das Geschäft mit Krediten an
Privatkunden abzukühlen. Die Banken sollen sich
stärker auf Kredite für die Realwirtschaft, auf Un-
ternehmensinvestitionen konzentrieren. Aber das
ist Nonsens. Wenn wir die Kreditvergabe an Pri-
vatkunden reduzieren, bedeutet dies nicht, dass
die Banken den Unternehmen mehr Kredite ge-
währen.

Warum nicht?
Der Grund, die Kreditvergabe an
Unternehmen nicht zu erhö-
hen, liegt darin, dass viele
von ihnen überschuldet sind.
Zum Beispiel in der Zement-
industrie, im Bausektor oder
auch im Kohlebergbau. Und
einige Unternehmen sind
nicht transparent genug.

Welche Strategie verfolgt die
VTB in diesem Umfeld?
Das zentrale Thema ist die Digitalisie-
rung, da im Bankgeschäft neue Technolo-
gien schneller als in anderen Bereichen einge-
führt werden. Seit vielen Jahren wird über selbst-
fahrende Autos gesprochen, aber auf der Straße
sieht man heute noch nicht viele davon. Im Bank-
geschäft werden dagegen täglich neue Technolo-
gien eingeführt. Immer mehr Menschen nutzen
Mobiltelefone oder das Internet für Finanzge-
schäfte.

In Westeuropa machen junge technologiegetrie-
bene Finanzfirmen, sogenannte Fintechs, den
Banken Konkurrenz. Wie sieht das auf Ihrem Hei-
matmarkt aus?
In Russland nicht so sehr. Die führenden Banken
haben hier genug Geld, um das Know-how zu kau-
fen oder Start-ups im Finanzsektor zu überneh-
men. Wir versuchen, mit unseren neuen digitalen
Technologien anderen voraus zu sein und andere
Branchen zu durchdringen. Wir möchten ein Öko-
system schaffen, in dem unsere Dienstleistungen in
den Bereichen Verkehr, Handel und anderen Berei-
chen genutzt werden.

Das Hauptproblem sind weiterhin Sanktionen?
Ja, zumindest teilweise. Die VTB ist aufgrund der
Sanktionen völlig von Auslandsfinanzierungen ab-
geschnitten. Aber wir haben genug Dollars, Euros
und Rubel und konzentrieren uns mehr auf lokale
Finanzierung. Wir sind nicht mehr auf ausländi-
sche Finanzressourcen angewiesen.

Ist Russlands Banksystem trotz der Sanktionen
stabil?
Ja, das ist es. Obwohl wir mit 450 Banken immer
noch zu viele Institute haben. Die meisten von ih-
nen sind zu klein und können mit den neuen Vor-
schriften der Zentralbank nicht Schritt halten. Eini-
ge sind immer noch nicht transparent genug. Die
Zentralbank hat in den vergangenen Jahren einen
riesigen Geldbetrag von rund fast 50 Milliarden
Dollar investiert, um das System zu stabilisieren.
Sie wird die Situation unter Kontrolle halten.

Was bedeutet das konkret?
Umgerechnet 50 Milliarden Dollar wurden für
bankrotte Banken ausgegeben, hauptsächlich in
Form direkter Kapitalspritzen und Zahlungen
durch Einlagensicherungssysteme. Insgesamt ist
das Bankensystem stabil. Es gibt jetzt nicht mehr
nur VTB oder Sberbank, die vom Staat oder der
Zentralbank kontrolliert werden. Die Zentralbank
hält nun auch die Mehrheit der Bank Otkrytie.

Der staatliche Einfluss im Finanzsektor wird also
immer stärker.
Ja, und es gibt daran viel Kritik. Aber ich denke,
das ist das geringere von zwei Übeln. Die Zentral-
bank hatte nicht viel Auswahl, und der Staat und
die Notenbank wollen auch Bankanteile verkaufen.
Tatsächlich aber ist das Bankgeschäft heutzutage
aufgrund der verschärften Regulierung kein attrak-
tives Geschäft weltweit. In Russland wird die Situa-
tion weiter durch Sanktionen beeinflusst. Ohne
diese Hindernisse wäre die VTB vollständig privati-
siert worden. Wir haben den Prozess 2007 begon-
nen, jetzt liegt der Streubesitz bei 39 Prozent, und
wir hätten ihn damals noch deutlich ausweiten
können. Heute ist das unmöglich.

Wegen der westlichen Sanktionen? Es könnte an-
dere Käufer geben, zum Beispiel aus China.
Jeder hat Angst vor den Sekundärsanktio-
nen der USA. Das Lustige ist, dass die
russische Regierung bereits existie-
rende Aktien verkaufen könnte,
sie unterliegen keinen Sanktio-
nen, nur neue Aktien. Die Re-
gierung könnte also die restli-
chen 61 Prozent der VTB ver-
kaufen, aber die Anleger ha-
ben keinen großen Appetit.
Wir müssen also auf das Ende
der Sanktionen warten. Noch
sind russische Vermögenswerte
stark unterbewertet, aber wenn
die Sanktionen aufgehoben werden,
werden die Preise sehr schnell steigen.

Wo sehen Sie noch Probleme?
Unsere Wirtschaft wächst so langsam wie die in
Europa. Die offizielle Prognose für 2019 liegt unter
zwei Prozent. Der Bankensektor wächst immer
noch schneller als die Wirtschaft im Allgemeinen.
Aber das bescheidene Wirtschaftswachstum be-
schränkt die Möglichkeiten für Banken. Den euro-
päischen Banken geht es allerdings noch schlechter
als den russischen, weil die Regulierung noch stär-
ker zunimmt. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel wie in
der Zeichentrickserie Tom und Jerry: Die Zentral-
banken drängen die Banken, weniger Risiko einzu-
gehen und mehr Kapital bereitzustellen, und die
Banken versuchen genau das Umgekehrte. Glückli-
cherweise haben wir für Russland immer noch ei-
nen relativ hohen Leitzins von 6,5 Prozent, was für
die Wirtschaft akzeptabel ist und es uns ermög-
licht, eine hohe Marge von gut drei Prozent zu er-
zielen. Das wäre unmöglich, wenn wir wie in
Europa Negativzinsen hätten.

Macht die russische Regierung genug, um die
Wirtschaft anzukurbeln?
Die Regierung zieht Geld aus dem System ab, in-
dem sie mehr Steuern erhebt, mehr Geld in die
staatlichen Reservefonds legt, Gold kauft oder Dol-
lars in Rubel umwandelt. Jetzt hat die Regierung
immerhin nationale Projekte ins Leben gerufen,
mit denen in den nächsten drei bis fünf Jahren
enorme Investitionen in Infrastruktur, Bildung und
andere sozial wichtige Bereiche fließen.

Was könnte die Regierung darüber hinaus tun?
Ich habe dem Finanzminister, der Vorsitzender un-
seres Aufsichtsrats ist, vorgeschlagen, die Steuern
für Menschen mit niedrigem Einkommen und für
kleine und mittlere Unternehmen zu senken. Der
Minister war sehr unglücklich, weil er glaubt, dass
die Regierung nichts ändern sollte. Interessanter-
weise erhöht sie aber die Steuern, die Ausgaben in-
des nicht. Wir haben einen hohen Haushaltsüber-
schuss, und das Steueraufkommen wächst viel
schneller als die Staatsausgaben. Der Finanzminis-
ter will eine Verbilligung von Krediten, die Zentral-
bank ist jedoch vorsichtig.

Warum ist das so?
Die Notenbank befürchtet einen Anstieg der Infla-
tion. Meiner Meinung nach kann der Leitzins in-
nerhalb der nächsten zwei Jahre auf 5,5 bis sechs
Prozent sinken, nicht stärker. In Russland wird es
kein billiges Geld für die Banken geben wie in
Europa oder Amerika. Das ist sicher. Das begrenzt
Wachstumsimpulse für die Wirtschaft. Kurzfristig
sind Steuersenkungen nicht realistisch, daher be-
steht die einzige Möglichkeit darin, die Staatsausga-
ben zu erhöhen. Das wäre der Motor für wirt-
schaftliches Wachstum.

Inwieweit ist Russland von Entwicklungen in
Europa wie Negativzinsen oder dem Brexit betrof-
fen?
Nicht so stark. Der Brexit wird Russland nicht sehr
beeinflussen.

Auch nicht Ihren Ableger VTB Capital in London?
Wir haben dort 160 Mitarbeiter und 2,5 Milliarden
Dollar in unserer Bilanz. Wir haben bereits einen
Teil der Aktivitäten in die europäische Zentrale der
VTB in Frankfurt verlagert. Dort haben wir mit 215
Mitarbeitern bereits mehr als in London. Nach
dem Zusammenschluss der europäischen Aktivitä-
ten der VTB im Jahr 2017 haben wir unsere Beleg-
schaft in Deutschland verdoppelt. In Frankfurt ha-
ben wir die VTB Direktbank, sie unterhält 170 000
Konten mit Einlagen von rund drei Milliarden
Euro. Insgesamt verwalten wir dort drei Milliarden
von Privatkunden der VTB Direktbank und eine
Milliarde von Firmenkunden der VTB Bank
(Europe) SE.

Wie wollen Sie in Deutschland wachsen?
Das ist schwierig, auch die Deutsche Bank hat Pro-
bleme in ihrer Heimat. Wir arbeiten hauptsächlich
mit deutschen Tochtergesellschaften der größten
russischen Unternehmen sowie mit Firmen aus
GUS-Staaten, die in Deutschland präsent sind. Wir
finanzieren den russisch-deutschen Handel im
Umfeld der Sanktionen. Es ist wichtig, in Europa
präsent zu sein. Wir erwarten ein moderates
Wachstum unseres Kundenstamms in Deutsch-
land.

Sie haben die Deutsche Bank erwähnt. Wie sehen
Sie das größte deutsche Bankhaus?
Amerikanische und englische Journalisten fragen
mich oft, ob wir mit der Deutschen Bank zusam-
mengearbeitet haben. Natürlich haben wir es ge-
tan, und wir tun es noch immer. Und dann sagen
diese Journalisten, dass die Deutsche Bank auch
mit US-Präsident Donald Trump zusammengear-
beitet hat und es deshalb eine Verbindung zwi-
schen VTB und Trump geben muss. Auf die Frage,
warum das so sein sollte, lautet die Antwort dieser
Kritiker: „Weil beide mit der Deutschen Bank zu-
sammengearbeitet haben.“ Im Ernst, das ist ihre
Logik. Mein verstorbener Sohn hat dort zehn Jahre
lang gearbeitet. Und ich hatte eine ganz besondere
Beziehung zum ehemaligen Vorstandschef, Herrn
Ackermann, der meiner Meinung nach ein großar-
tiger Investmentbanker war. Er war ein ziemlicher
Star in der Bank. Und im Investmentbanking war
die Deutsche Bank tatsächlich unser Lehrer. Es ist
bedauerlich zu sehen, was jetzt mit der Deutschen
Bank passiert.

Herr Kostin, vielen Dank für das Interview.

Frankfurter Skyline: In der VTB-Europazentrale arbeiten 215 Mitarbeiter. Die Fragen stellte Mathias Brüggmann.

imago

Die Person Andrej
Leonidowitsch Kostin
begann seine Karriere
als sowjetischer
Diplomat in Australien
und Großbritannien.
Nach dem Zusam-
menbruch der UdSSR
ging er in die Finanz-
branche. Seit 2002
leitet der heute
63-Jährige die VTB.
Kostin ist Mitglied im
Obersten Rat der
regierenden Putin-
Partei „Einheitliches
Russland“.

Die Bank Die VTB ist
die zweitgrößte mehr-
heitlich staatliche
Bank Russlands, 60,9
Prozent hält der
Staat. Weitere Anteile
halten die Qatar Hol-
ding, aserbaidschani-
sche, chinesische und
norwegische Staats-
fonds, US-Hedge-
fonds sowie die vom
Staat gerettete Bank
Otkrytie.

Vita
Andrej Kostin

In Russland wird


es kein billiges Geld


für die Banken geben


wie in Europa oder


Amerika. Das ist


sicher.


Finanzen & Börsen


MONTAG, 18. NOVEMBER 2019, NR. 222
31

‹+DQGHOVEODWW0HGLDURXSPE+ &R.*$OOH5HFKWHYRUEHKDOWHQ=XP(UZHUEZHLWHUJHKHQGHU5HFKWHZHQGHQ6LHVLFKELWWHDQQXW]XQJVUHFKWH#KDQGHOVEODWWJURXSFRP

Free download pdf