DEBATTE 31
Ja Nein
Fotos: Kay Herschelmann; Ministrium für Kultus, Jugend und Sport BW; LStockStudio/Shutterstock.com
„Das Zentralabitur widerspricht
dem Ideal eines individualisierten
Unterrichts. “
Das Zentralabitur soll für eine bessere
Ve r g l e i c h b a r k e i t d e r No t e n s o r g e n. D a-
bei geht es aber nur um die konkrete Prü-
fungssituation. Vergessen werden hier
die unterschiedlichen Voraussetzungen
der Lernenden, die sich zum Beispiel
durch die didaktischen Konzepte der
Lehrerinnen und Lehrer oder fachfremd
erteilten Unterricht ergeben. Dies lässt an
der Vergleichbarkeit zweifeln.
Auf einem Flickenteppich an Bildungs-
wegen, wie er für Deutschland charakte-
ristisch ist, lässt sich kein Zentralabitur
aufbauen. Eine zentrale Prüfung ist des-
halb ohne eine Einschränkung der Bil-
dungshoheit der Länder kaum denkbar.
Diese wollen aber selbst entscheiden!
Das Zentralabitur macht eine stärkere
Standardisierung der Lerninhalte nötig.
Es widerspricht damit dem Ideal eines
individualisierten Unterrichts. Dieser ist
jedoch sowohl im Interesse der geistigen
Entwicklung der einzelnen Lernenden als
auch deshalb notwendig, weil die Lern-
gruppen immer heterogener werden.
In unserer globalisierten, digitalisier-
ten Welt müssen Jugendliche lernen,
sich selbstständig Orientierungswissen
anzueignen sowie auf neue Situationen
kreativ zu reagieren. Kritisches Denken
und kritische Fragen sind wichtig. Dem
widersprechen feste Prüfungsformate.
Anstatt die Jugendlichen zu Ein-
zelkämpfern zu trainieren, sollten die
Leistungen an den Anforderungen des
Lernens in der modernen Welt gemes-
sen werden. Passende Prüfungsformate
dafür sind kleinere Forschungsprojekte
im Team, begleitet von individuellen
Präsentationen der eigenen Fokusse.
Für die Lernleistung dürfte es dann auch
nicht mehr eine einzelne Ziffer geben. Sie
müsste die Form einer detaillierten verba-
len Würdigung haben.
widerspr¡chen
, hier: nicht zusammen-
passen mit
das Konz¡pt, -e
, Idee; Programm; Plan
f„chfremd erteilt
, so, dass ein Lehrer
den Unterricht in einem
Fach gibt, das er gar nicht
studiert hat
der Fl“ckenteppich, -e
, Teppich aus verschiede-
nen Stoffstücken; gemeint
ist hier: ≈ extrem verschie-
dene Voraussetzungen
der B“ldungsweg, -e
, verschiedene Phasen
der Ausbildung von der
Grundschule bis zum
Ausbildungsende
die Einschränkung, -en
, hier: Regel, die etwas
reduziert
die B“ldungshoheit
, hier: Recht, als Bundes-
land selbst über Schulsyste-
me und Bildungsfragen zu
entscheiden
geistig
, hier: intellektuell
digitalisiert
, hier: so, dass sehr viele
Bereiche über Computer-
technik funktionieren und
kontrolliert werden
s“ch „neignen
, hier: lernen
der Einzelkämpfer, -
, hier: Person, die nur für
sich allein arbeitet/lernt
die [nforderung, -en
, hier: Können und
Wissen, das vorausgesetzt
wird
begleitet v¶n
, hier: zusammen mit
der Fokus, -se
, hier: ≈ Hauptthema
die W•rdigung, -en
, hier: ≈ Lob/Kritik
passend zur Leistung
Ilka Hoffmann ist Schulexpertin
der Lehrergewerkschaft GEW.
Susanne Eisenmann ist Ministerin
für Kultus, Jugend und Sport in
Baden-Württemberg.
das B¢ndesverf„ssungs-
gericht
, Gericht in Deutschland,
das bei einem Streit über die
Verfassung entscheidet
(die Verf„ssung, -en
, schriftliche Form für die
politischen und rechtlichen
Grundregeln in einem
Staat)
der NC , kurz für:
Numerus clausus = Limit/
Grenze für die Zahl von Stu-
denten für ein Studienfach
die Bereitschaft
, Absicht, etwas zu tun
s“ch verpfl“chten zu
, hier: sich eine Aufgabe
geben und offiziell erklären,
was man tun wird
eher
, hier: ≈ mehr
die B“ldungsfrage, -n
, ≈ Frage zum Thema
Schulen und Universitäten
überflüssig
, unnötig
die K¢ltusministerkonfe-
renz, -en
, Treffen der Minister für
Unterricht und Kultur aus
allen Bundesländern
die [ngleichung
, hier: Änderung der
Abschlüsse, damit sie sich
ähnlich werden
(der [bschluss, ¿e
, hier: Ende der Schule,
einer Ausbildung oder
eines Studiums mit einer
Prüfung)
die [nerkennung
, ≈ offizielle Akzeptanz
einheitlich
, hier: für alle Bundeslän-
der gleich
die Bezeichnung, -en
, Name
verpfl“chtend
, zur Pflicht; hier: für alle
ein Muss
„Die Länder müssen endlich für mehr
Vergleichbarkeit sorgen.“
Das Abitur in Deutschland ist nicht ver-
gleichbar. Was wir alle schon seit Langem
wussten, hat das Bundesverfassungsge-
richt mit seinem Urteil zum NC im Me-
dizinstudium endgültig bestätigt. Der da-
mit verbundene Auftrag an uns Länder ist
klar: endlich für mehr Vergleichbarkeit zu
sorgen. Der gemeinsame Aufgabenpool,
den es seit 2017 gibt, war ein erster Schritt
in die richtige Richtung. Allerdings zei-
gen die Erfahrungen, dass dieser für eine
wirklich vergleichbare Abi turprüfung
nicht ausreicht.
Die Bereitschaft einiger Länder, sich zu
mehr Gemeinsamkeiten zu verpflichten,
nimmt zurzeit eher ab als zu. Wenn wir
Länder auf die bekannten Tendenzen des
Bundes, bei Bildungsfragen mitentschei-
den zu wollen, nicht endlich reagieren,
macht sich der Bildungsföderalismus
bald selbst überflüssig.
Meine Forderung nach einem Zentral-
abitur ist deshalb ein Weckruf. Die Kul-
tusministerkonferenz muss sich vom
Containerschiff zum Schnellboot entwi-
ckeln und endlich den Mut haben, in ei-
nem gemeinsamen Staatsvertrag für ver-
gleichbare Bedingungen in der Bildung
zu sorgen. Und in diesem Kontext müs-
sen sich die Länder auf ein Zentralabi tur
für ganz Deutschland einigen – ohne ei-
nen Einfluss des Bundes.
Unbedingt nötig sind außerdem eine
Angleichung weiterer Abschlüsse, eine
unbürokratische gegenseitige Anerken-
nung von Abschlüssen von Lehrerinnen
und Lehrern, einheitlichere Bezeichnun-
gen für die vielen sehr verschiedenen
Schularten im Land und vieles mehr.
Gelingt es uns Ländern nicht, hier
deutlich bessere und auch verpflich-
tende Regelungen zu finden, könnte der
Bildungsföderalismus schon bald eine
Karikatur von sich selbst werden.
Deutsch perfekt 13 / 2019