Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1

22 KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,5.NOVEMBER2019


drei Monate vorkommt. Hängt
ein Zettel an der unteren Ein-
gangstür, so hoffe ich insge-
heim immer, dass es eine Party-
warnung von Rodrigo und An-
ton ist, deren Feiern ein legen-
därer Mix aus New Kids on the
Block, knallenden Korken und
gegeneinander ankämpfendem
„Chin Chin“ sind.
Und, nicht zu vergessen,
Cher mit „Save Up All Your Te-
ars“, einem Lied, das nicht nur
bei Partys gespielt wird, son-
dern auch beim Putzen am Tag
danach, an den seltenen Aben-
den, wenn zu zweit gekocht
wird, oder wenn die beiden an
einem Wochenendmorgen nach
Hause kommen und eine letzte
Flasche geöffnet wird.
Das war aber nicht immer so.
Im letzten Jahr hat es vermehrt
gekracht, wegen Eifersucht. In
Antons Augen hat es Rodrigo
mit der Flirterei etwas übertrie-
ben, und als jüngst sein Ex-
freund mit im „Sisyphos“ gewe-
sen war, wurde es Anton zu viel.
Rodrigo fand es zwar enttäu-
schend, dass da das Vertrauen

nicht reichte, war das viele
Streiten dann aber doch leid.
Anton zog aus, für etwa ein
halbes Jahr. Ein halbes Jahr, in
dem es Rodrigo durchaus hat
krachen lassen. Keine Tortillas
mehr, dafür Deliveroo, er kam
noch später nach Hause als oh-
nehin schon, meistens mit Be-
gleitung. Die nicht Anton war.
Es ist eine unfreiwillige Ausbil-
dung, der ich mich da unterzo-
gen habe, aber ja, Menschen
sind auch akustisch relativ gut
voneinander zu unterscheiden
beim Sex.
Die Besucher wechselten oft,
gingen meist noch in der Nacht,
und das anschließende Gläser-
klappern klang nicht nach einer
der ausbalanciertesten Phasen
in Rodrigos Leben – das er in ei-
nigen Teilen und zwischen den
Tagen über der Kloschüssel ver-
brachte.
Bis zu dem Tag, an dem wie-
der beide Teilnehmer sehr ver-
traut klangen. Und mich sonn-
tagmorgens in der Früh Cher
weckte. Anton war zurück, und
da ist er auch heute noch. Und

um eine Erfahrung reicher, die
er nicht müde wird zu teilen,
und zwar in Form von Bezie-
hungsratschlägen, am Telefon,
in der Küche, bei einer Tasse
Kaffee. „Ganz ehrlich, wenn der
bei eurem ersten Date schon
mit so einer Scheißgalligkeit
ankommt, wird das nichts
mehr. Hätte selbst Rigo nie ge-
bracht. Schieß den direkt wie-
der ab, so was brauchst du
nicht“, weiß Anton. Er erzählt
auch, dass er eine Therapie an-
gefangen habe, seiner Eifer-
sucht wegen. „War vermutlich
echt nicht gerechtfertigt“, so
sein Resümee.
„You say that you can do wit-
hout me / Go ahead now try to
live without me“, diese Zeilen
Chers passen so gar nicht mehr
zu den beiden. Hat ja auch
nicht geklappt mit dem Allein-
leben. Letzte Woche war wie-
der eine Feier im Haus in der
Weserstraße. Ich habe meine
eigene Musik ausgeschaltet,
Wein gekauft und Freunde ein-
geladen, bloß eben an meinem
Tisch, fünf Quadratmeter ent-
fernt vom eigentlichen Fest-
tisch, an dem jetzt Spanisch,
Englisch und auch Deutsch ge-
sprochen wird; Maltes Eltern
sind zu Besuch gekommen, um
endlich mal diesen Rodrigo
kennenzulernen.
Wir haben einander noch
nie gesehen und noch kein
WWWort miteinander gewechselt,ort miteinander gewechselt,
aber immerhin ein gemeinsa-
mes Lied: „Save Up All Your
Tears“. Nun, ich habe mich un-
fffreiwillig hineingeschlichen, inreiwillig hineingeschlichen, in
unsere akustische Dreisam-
keit, aber ich bin gerne dort.
Rodrigo kann etwas besser den
Ton halten als Anton, aber das
ist ja egal. Ich singe eigentlich
auch nur dann mit, wenn An-
ton es wagt.

PICTURE ALLIANCE/ DPA

/ HORST OSSINGER

Porträt


meiner


Nachbarn


Man sagt, in der Stadt lebe jeder


nur für sich, aber das stimmt nicht –


jedenfalls, wenn die Wände dünn


genug sind. Über eine fast rein


akustische Wohngemeinschaft


D


er Maulwurf wurde
zum Tier des Jahres
2020 ernannt. Abge-
sehen davon, dass der Maul-
wurf viele Kleingärtner zur
Verzweiflung getrieben hat
und zu Mördern werden ließ,
ist die Wahl ein fatales politi-
sches Signal. Die Entscheidung
für ein Tier, das sein Leben
lang im Untergrund arbeitet,
kann für gewisse Kreise doch
nur als Ermunterung verstan-
den werden, das Fundament
unserer Gesellschaft weiter
auszuhöhlen und am Ende das
ganze Gebäude der Demokra-
tie zum Einsturz zu bringen.
Maulwürfe sind in Behörden
gefürchtet, und sie verraten
mit Vorliebe Firmengeheim-
nisse. Erst kürzlich wurde ein
Maulwurf im Verteidigungs-
ministerium entdeckt, und
auch beim Verfassungsschutz
wurden schon welche gefun-
den. Angeblich vertilgt der
Maulwurf tonnenweise Schäd-
linge und belüftet die Wurzeln.
Nur sieht man davon nichts,
aber von den Erdhügeln, die er
mitten auf dem Rasen aufwirft,
umso mehr. Seine CO 2 -Bilanz
dürfte daher nicht besonders
erfreulich ausfallen. Der Maul-
wurf sollte nicht Tier, sondern
Unwort des Jahres werden.


Zippert


zappt


LITERATUR


Prix Goncourt für


Jean-Paul Dubois


Der französische Literaturpreis
Prix Goncourt geht in diesem
Jahr an den Autor Jean-Paul
Dubois. Der 69-Jährige erhält
Frankreichs begehrteste Li-
teraturauszeichnung für den
Roman „Tous les hommes
n’habitent pas le monde de la
même façon“ (etwa: Nicht alle
Menschen leben auf die gleiche
Weise auf der Welt), wie die
Jury in Paris mitteilte. Das
Buch handelt von einem Mann,
der in Kanada in einem Ge-
fängnis sitzt. In seiner Zelle
lässt er sein Leben Revue pas-
sieren.


FILM


Schauspielerin Marie


Laforêt ist tot


Die französisch-schweizerische
Sängerin und Schauspielerin
Marie Laforêt ist tot. Sie starb
im Alter von 80 Jahren. Laforêt
drehte an der Seite von Sophie
Marceau, Béatrice Dalle und
Jean-Paul Belmondo. Zu ihren
bekanntesten Filmen zählen
„Fröhliche Ostern“ (1984) oder
„Der Windhund“ (1979). Sie
veröffentlichte zudem mehr als
ein Dutzend Studioalben.


KOMPAKT


G


estern hat Rodrigo
einen Apfelkuchen
gebacken, der er-
staunlich ähnlich
roch wie der meiner schwäbi-
schen Großmutter. Dabei
kommt Rodrigo doch aus Ma-
drid, von wo er jeden Monat
Freunde bei sich und seinem
Freund Anton begrüßen darf.
Bei sich, das ist auch bei mir,
denn alle drei wohnen wir in
der Berliner Weserstraße, ein-
mal Hinterhaus und einmal Sei-
tenflügel, um’s Eck.

VON JULIANE EVA REICHERT

Faktisch sieht das dann so
aus, dass nur wenige Zentime-
ter Beton unsere beiden Betten
trennen, und was Rodrigo und
Anton kochen, zieht durch das
Wohnzimmerfenster in meine
Nase, wenn ich am Schreibtisch
sitze und arbeite. Das ist schön,
hat etwas sehr Wohnliches und
fühlt sich beim ersten Schritt in
die Wohnung immer etwa so
an, als würde man von der
Schule kommen und die Mutter
habe gekocht.
Bloß dass man das Essen
eben nie auf dem eigenen Teller
sehen wird. Meistens kocht Ro-
drigo, es wird massenweise
Knoblauch gebraten, in unüber-
schaubaren Litermengen frit-
tiert, und dazu gibt es Wein.
Viel Wein. Wein mit Korken aus
Kork, nicht Plastik, und manch-
mal öffne ich dann auch einen
Wein und stoße im Geiste und
um die Ecke an.
Amtssprache bei den beiden
ist Englisch, und wenn Anton
nach Hause kommt und Rodri-
go wieder mal spanische Freun-
de zu Besuch hat, wird sofort
gewechselt. Anton kocht kaum.
Außer, wenn die beiden eine
Party schmeißen, was etwa alle
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