Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1
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24 MAGAZIN DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,5.NOVEMBER2019


A


ngela Fernandez hat
herzzerreißende Ge-
schichten mitgebracht
in die Synagoge an der
Fort Washington Avenue, Ge-
schichten, die dem Publikum die
Sprache verschlagen. Sie erzählt
von einer Frau aus Venezuela, die
sich in einer Kirche an der 179th
Street, keinen Steinwurf ent-
fernt, vor Donald Trumps Greif-
truppen versteckt. Sie erzählt
von Kindern, die hier in New
York geboren wurden und jetzt
Angst haben, in die Heimat ihrer
Eltern, nach Guatemala, ausge-
wiesen zu werden, wo sie die
Sprache nicht sprechen, nieman-
den kennen und wo bittere
Armut herrscht.


VON SEBASTIAN MOLL

Fernandez’ Publikum im Kel-
ler des Hebrew Tabernacle, ei-
nem Gotteshaus nahe dem
höchsten Punkt von Manhattan,
hängt an ihren Lippen. Man fühlt
mit ihr und der Community, die
sie repräsentiert – die Latinos
von Washington Heights. Sie prä-
gen das Gebiet zwischen der
155th und der Dyckman Street,
seit in den 60ern eine Flücht-
lingswelle aus der unter einer re-
pressiven Diktatur ächzenden
Dominikanischen Republik nach
New York schwappte.
Die Menschen im Saal können
das nachfühlen. Viele von ihnen
sind nur eine Generation von der
Erfahrung des Exils und der Ver-
folgung entfernt. Manche haben
es noch am eigenen Leib erfah-
ren. Wie etwa Ruth Westheimer,
die charmante 91-Jährige mit ih-
rem markanten Hessisch-Ameri-
kanisch, die in den USA ein Su-
perstar ist, seit sie in den 60ern
begann, unverblümt im Fernse-
hen über die ganz alltäglichen
Sexprobleme zu reden. Als „Dr.
Ruth“ ist sie bekannt. 1956 lande-
te sie in Washington Heights,
nachdem sie in Deutschland, Pa-
lästina und Paris gelebt hatte.
Die Eltern der gebürtigen Frank-
furterin wurden am Morgen nach
der Reichspogromnacht von den
Nazis deportiert und ermordet.
Als Ruth Westheimer hier an-
kam, war Washington Heights
anders als heute. Westlich des
Broadways, auf der felsigen An-
höhe über dem Hudson River, auf
der auch das Tabernacle thront,
fand man Geschäfte wie die deut-
sche Bäckerei Gideons, in der es
Schwarzwälder Kirsch gab; oder
das deutsche Restaurant „Nasch“
in dem man, wie Dr. Ruth sich er-
innert, Kartoffelsalat mit Gurken
bekam. Über die Theke und in
den Haushalten, wo man nach-
mittags den Kaffeeklatsch pfleg-
te, wurde Deutsch gesprochen.
Rund 30.000 deutsche Juden, die
vor den Nazis geflohen waren,
hatten hier ihre Heimat gefun-
den – die größte deutsch-jüdi-
sche Gemeinde außerhalb
Deutschlands.
So haben die Heights eine lan-
ge Tradition, ein Viertel zu sein,
das Neuankömmlinge freundlich
aufnimmt und ihnen Schutz bie-
tet. Vor den deutschen Juden und
den Latinos waren es irische Ka-


tholiken und osteuropäische Ju-
den. Es ist ein Erbe, das man hier
pflegt und auf das man stolz ist.
Die Spuren der deutschen Tra-
dition muss man in Washington
Heights heute allerdings suchen.
Das Hebrew Tabernacle ist noch
da, das von den letzten Überle-
benden wie Dr. Ruth besucht
wird sowie von Kindern und En-
keln der deutschen Einwanderer,
die noch hierherkommen, ob-
wohl sie längst in andere Teile
New Yorks umgezogen sind. Seit
den 30er-Jahren ist die Synagoge
das Zentrum deutsch-jüdischen
Lebens in Washington Heights.
In der Eingangshalle findet man
vergilbte Fotos der prachtvollen
alten Synagogen in Deutschland,
die 1938 zerstört wurden.
Heute ist Washington Heights,
der drei Blocks breite Streifen
zwischen dem Broadway und den
steil zum Hudson abfallenden
Felsen, ein ruhiges, gediegenes
Wohnviertel. Es gibt noch kleine
jüdische Enklaven, etwa entlang
der Bennett Avenue, wo sich die
orthodoxe Breuer-Gemeinde
findet, ansonsten dominiert
die weiße amerikanische
Mittelschicht. Und die
Gentrifizierung macht
sich immer deutlicher
bemerkbar. Die Wohn-
preise haben sich seit
2009 verdoppelt, es gibt
Bioläden, Hipster-Cafés
und Restaurants mit Ambi-
tionen.
An der Ecke zum Broad-
way ist es indes, als über-

schreite man einen kulturellen
Graben. Der alte indianische
Trampelpfad, der sich durch
Manhattan zieht, bildet hier so
etwas wie die Talsohle zwischen
den zwei Hügelkämmen, die die
Landschaft des oberen Manhat-
tan prägen und Washington
Heights den Namen geben. So
fungiert der Broadway wie eine
natürliche Grenze zwischen zwei
grundverschiedenen Soziotopen.
Schon wenn man auf den Broad-
way einbiegt, wird man abrupt in
prallstes Karibikleben hineinge-
worfen. Aus den kleinen Bodegas
dringt Musik auf die Straße, die
Tag und Nacht von den Men-
schen bevölkert wird. Alte Män-
ner spielen Domino, die Jungen
stehen zusammen, Kinder spie-
len auf dem Pflaster.
In dominikanischen Traditi-
onsrestaurants wie dem „House
of Mofongo“ kann man sich eine
satte Portion Insel abholen, Sea-
food. Und wem der allgegenwär-
tige Rhythmus in die Knochen
fährt, der kann die blühende
Clubszene erkunden, in der sich
die junge Generation von Domi-
nikanern ihre eigene Subkultur
geschaffen hat – die immer mehr
neugierige Nachtschwärmer aus
Downtown anzieht.
Der Osten von Washington
Heights vom Broadway bis hin
zum Harlem River, das Kernge-
biet lateinamerikanischen Le-
bens, war schon immer der raue-
re Teil des Bezirks. Bevor in den
60ern die Latinos kamen, war die
Gegend von irischen Einwande-

Zweigstelle des Metropolitan Museum of Art:
The Cloisters im Norden Manhattans sieht
ganz schön europäisch aus. Was daran liegt,
dass es mit originalen Gebäudeteilen
französischer Klöster erbaut wurde

DDP/ HEMIS.FR/ PHILIPPE RENAULT

Seit jeher Viertel der Einwanderer,


zwischenzeitlich Drogensumpf,


heute gediegen, authentisch,


ein bisschen hip und fast schon


ländlich: Das ist Washington Heights,


ein Stück unentdecktes Manhattan


Eintritt zehn Dollar (morris-
jumel.org); Hispanic Society of
America, Sammlung spa-
nischer Kunst (hispanicsocie-
ty.org); The Cloisters im Fort
Tryon Park, Kloster mit mittel-
alterlicher Kunst aus dem
Metropolitan Museum of Art
(metmuseum.org).

Auskunftnycgo.com; height-
sites.com

Tipps und Informationen

AnreiseFlug nach New York
JFK oder Newark etwa mit
Lufthansa (lufthansa.com)
oder United (united.com) non-
stop ab Berlin, Frankfurt und
München. Air France (airfran-
ce.com), Delta (delta.com) und
andere bieten Umsteigever-
bindungen an. Nach Washing-
ton Heights/ 168th Street
fahren die New Yorker U-
Bahn-Linien 1, A und C.

Unterkunft„The Edge“, Bouti-
quehotel mit Blick über den
Hudson River, Doppelzimmer
ab 200 Euro (edgehotel-
nyc.com). „Opera House Ho-
tel“, modernes Haus in der
Bronx, 15 Gehminuten bis
Washington Heights, ab 100
Euro (operahousehotel.com).

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Morris-Jumel Mansion,
Hauptquartier von George
Washington während des
Unabhängigkeitskriegs,

Das soll New York sein?

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