Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 SCHWEIZ


BETAGTENPFLEGE


Hohe Hürden für Hilflose


Beim Antrag auf Hilflosenentschädigung wird Betagten das Leben mitunter schwergemacht


JÖRGKRUMMENACHER


590 MillionenFrankengab dieAHV letz-
tes Jahr für Hilflosenentschädigungen
aus. Gut 64000Bezüger imPensionsalter
profitierten von einem Zustupf. Die-
ser beträgt,je nachdem, ob leichte, mitt-
lere oder schwere Hilflosigkeit vorliegt,
monatlich zwischen 237 und 948Franken.
Um das Geld zuerhalten,müssen die Be-
züger allerdings Geduld aufbringen und
die bürokratischen Hürden derregiona-
lenAHV-Stellen überwinden–eineAuf-
gabe, die für Betagte und Schwerkranke
zur Zumutung werden kann.


Das langeWarten


Wer nach derPensionierung pflege-
bedürftig wird, hat nicht sofort Anrecht
auf Hilflosenentschädigung, sondern
muss einJahr warten und ununterbro-
chene Hilflosigkeit nachweisen. Diese
Lösung ist geeignet für langfristig Pfle-
gebedürftige, zum Beispiel Demente.
Sie benachteiligt aber etwa aufgrund
von Krebserkrankungen akut Hilflose:
Bei manchen wechseln intensive Pfle-
gephasen mitPerioden ab, in denen sie
kaum Hilfe benötigen.Oder sie sterben,
bevor sie Anrecht auf Hilflosenentschä-
digunghaben.
Wer das Schicksal erleidet, mehr als
ein Jahr pflegebedürftig zu sein, muss
einen Antrag bei derregionalen AHV-
Ausgleichskasse stellen.Im Lauf der
letztenJahre sind zusehends mehr sol-
che Gesuche bewilligt worden – eine
Folge derälter werdenden Bevölkerung.
Seit 2009 ist die Zahl der AHV-Bezü-
ger von Hilflosenentschädigungen um
43 Prozent gestiegen.
Die zunehmendenKosten mögen ein
Grund sein, weshalb sich AHV-Stellen
bisweilen schwertun, Ansprüche anzuer-
kennen.Dazu sei ein Beispiel aufgeführt,


das sich diesesJahr im privaten Umfeld
des Schreibenden abgespielt hat und
schriftlich im Detail dokumentiert ist.
Es handelt von der Sozialversicherungs-
anstalt des Kantons St. Gallen (SVA)
und betrifft einePerson, die zu Hause
lebt und aufgrund einer Hirnoperation
und eines aggressivenTumors durch-
gehende Betreuung braucht.Symptome
der Erkrankung sind Orientierungslosig-
keit,Verwirrtheit,zunehmende Schläfrig-

keit,das Risiko epileptischerAnfälle. Ein
Jahr nach der Hirnoperation meldet sie
sich bei derSVA für die Hilflosenent-
schädigung an. Gemäss den in derVer-
ordnung über die Invalidenversicherung
genannten Kriterien bestünde bei ihr
eine Hilflosigkeit mittleren Grades, wo-
mit sie eine monatliche Zahlung (Tarif
2019) von 593Franken zugute hätte. Sie
ist in mindestens zwei alltäglichen Le-
bensverrichtungenregelmässig und in er-
hebli cher Weise auf Hilfe Dritter ange-
wiesen,benötigt zudem dauerndelebens-
praktische Begleitung. Der behandelnde
Onkologe hält im Antrag an die AHV
explizit fest: «Patientin bedarf der stän-
digen Begleitung und Unterstützung in
der Lebensführung durchkognitive Be-
einträchtigungen.»
Die SVA ignoriert dies und stuft die
Frau als nur leicht hilfsbedürftig ein,
nachdem die Behörde für die «notwendi-
genAbklärungen» dreiMonatebenötigt
hat. «Eine persönliche Überwachungs-
bedürftigkeit ist nicht ausgewiesen»,
hält dieSVA in ihrer schriftlichenVer-
fügung fest, ohneRücksprache mit Arzt
oder Betreuungspersonen genommen
zu haben. Sie zahlt monatlich nur 237

Franken aus, den niedrigstenTarif. Spar-
effekt seitens derSVA gegenüber dem
mittlerenTarif: 356Franken pro Monat.

Der Auditor belehrt


«Gegen dieseVerfügung»,so steht im
Schr eiben, «können davon Betroffene
innert 30Tagen seit der Zustellung Ein-
sprache bei derSVA St. Gallen erheben.»
Dies macht die Betroffene denn auch
umgehend.NeunTage später meldet sich
der Auditor derSVA, AbteilungRecht.
Er schreibt: «Hiermit lasse ich Siewissen,
dass wir Ihre ‹Einsprache› (wobei es sich
korrekterweise um eine Beschwerde han-
delt)an dasVersicherungsgericht St.Gal-
len weitergeleitet haben.(...) Es ist näm-
lich so, dass dieVerfahrenshoheit in die-
sem Verfahrensabschnitt nicht bei uns,
sondern beimVersicherungsgericht liegt.
Wir bitten Sie, in Zukunft dieRechts-
mittelbelehrung auf unseren Schreiben
sorgfältig durchzulesen,um weitereFehl-
einsendungen zu vermeiden.»
Tatsächlich, dieser Eindruck drängt
sich nun auf, stellt sich hier dieFrage
nach der Sorgfalt, wenn auch anders-
herum.Ein entsprechendes Schreiben an

die SVA folgt.In seiner Replik entschul-
digt sich derAuditor sodann für seinen
«Fehler», wenn auch sprachlich etwas
holprig: «Mit IhrenAusführen haben Sie
natürlich vollkommenRecht.Inder Eifer
habe ich dieRechtsmittelbelehrung nur
überflogen und bin fälschlicherweise da-
von ausgegangen, dass es sich hier um
eine Beschwerde handeln muss.»

Die Kasse stellt klar


WeitereWochen verrinnen.Dann, fünf
Monatenach Anmeldung,folgt schliess-
lich die abschliessendeVerfügung der
SVA. Siekommt nun «aufgrund der er-
neuten Abklärungen» ebenfalls zum
Schluss: Es bestehe tatsächlich mittlere
Hilflosigkeit, denn esresultiere «ein er-
heb licher undregelmässiger Dritthilfe-
bedarf». Die imRahmen der Beschwerde
gestellteFrage, welche Abklärungen sie
denn vor ihrer erstenVerfügung getätigt
habe, lässt dieSVA vorerst unbeantwor-
tet, ebensodie Frage,wie sie anfangs
zum Schluss gekommen sei, die betrof-
fene Person sei nur leicht hilflos.
Nun um Stellungnahme gegenüber
der NZZ gebeten, weist dieSVA dar-
auf hin, dass der Begriffder «dauernden
lebenspraktischen Begleitung» nur für
die IV,nichtaber in der AHV gelte: «Es
gib t keine Hilflosenentschädigung mit-
telschweren Grades infolge Hilfebedürf-
tigkeit in zweiVerrichtungen und Bedarf
in der lebenspraktischen Begleitung.»
Das Beispiel zeigt zweierlei:Die Sach-
lage ist bisweilenkomplex und, vor allem,
es lohnt sich, den AHV-Stellen auf die
Finger zu schauen und sich für eigene
Belange einzusetzen.Der Betroffenenim
konkreten Fall ging es nicht um dieHöhe
der Zahlungen – diese stellen ohnehin nur
einen marginalen Zustupf an die Pflege-
und Betreuungskosten dar –, sondern
darum, dassLeistungen, die einerhilflos
gewordenenPerson zustehen,seriös abge-
klärt werden. Die Frau ist,zuletztschwer
hilflos, im vergangenen Mai gestorben.

Wiehilflos ist eineBetagte ,die durchgehend betreutwerden muss?Darüberentscheidet die AHV-Stelle. GAËTAN BALLY / KEYSTONE

BETAGTENPFLEGE
In einer dreiteiligen Seriewerfen wir
einen Blick auf dieBetagtenpflege ab-
seitsvon Heimen und Spitälern.Bereits
erschienen ist einText zur Situationvon
Pflegerinnen aus Osteuropa, die Hilfs-
bedürftige in der Schweiz betreuen. Ein
dritterText wird sich mit der ungeklärten
Situationvon Sterbehospizen befassen.

nzz.ch/schweiz

Betreuende Verwandte besserstellen


kru.·Oft werden pflegebedürftigePen-
sionäre von ihren Partnern oder Kindern
betreut oder mitbetreut. Sind die Pflege-
bedürftigenvon der AHV als hilflosan-
erkannt, stehen betreuendenVerwand-
ten im Gegenzug Betreuungsgutschriften
mitAnrecht auf eine höhereAHV-Rente
zu.Allerdings werden diese nur gewährt,
wenn dieVerwandten nicht gleichzeitig
auch Kinder betreuen, und sie gelten
nicht, wenn die pflegebedürftigePerson
nur als leicht hilflos eingestuftwird.Letz-
teres will der Bundesrat ändern.Im Rah-


men des neuen Bundesgesetzes über die
Verbesserungder Vereinbarkeit von Er-
werbstätigkeit und Angehörigenbetreu-
ung will er Gutschriften auch dann ge-
währen, wennnur eine leichte Hilflosig-
keit anerkannt ist. Neu sollen zudem
auch nicht verheiratete Lebenspartner
Anrecht auf Gutschriften erhalten. Der
Nationalrat hat dieVorlage im Septem-
ber 2019 gutgeheissen, sie kommt noch in
den Ständerat. Ebenso läuft beim Bund
ein Förderprogramm mit Entlastungs-
angeboten für betreuendeAngehörige.

Im Schwitzkaste n des Auslands


Wie bei Bankgeheimnis und Firmensteuern dürfte sich die Schweiz bald auch beim Rechtsschutz für Whistleblower internationalemDruck beugen


HANSUELI SCHÖCHLI


Die Schweiz istrelativ klein,reich, wirt-
schaftlich stark mit demAusland ver-
netzt und direktdemokratisch. Das
macht dasLand anfällig für internatio-
nalen Druck.Die jüngereVergangenheit
lieferte viele Beispiele zur Illustration;
zu den auffälligsten gehörten die Be-
erdigung des steuerlichenBankgeheim-
nisses gegenüber demAusland und die
erzwungeneReform derFirmensteuern.
Internationale Kritik muss sich die
Schweiz seit langem auch beimThema
Informantenschutz anhören. Haupt-
quelle ist der globale Länderverein
OECD, dem auch die Schweiz ange-
hört. Die Schweiz steht imVisier, weil
sie keinen ausdrücklichen Gesetzes-
schutz für Hinweisgeber verankert hat,
die in UnternehmenRechtsbrüche auf-
decken. Gemäss Bundesangaben hört
die Schweiz diese Kritik seit zehnJah-
ren, und dies zunehmend lauter, weil
Bern die wiederholt versprochene Ge-
setzesregelung immer noch nicht gelie-
fert hat. Der jüngsteLänderbericht von


OECD-Prüfern zur Schweiz von 20 18
fiel beimThema Informantenschutz
durch einen sehr kritischenTonfall auf.

Lange Leidensgeschichte


Das Parlament hatte schon 2007 den
Bundesrat via Motion beauftragt, eine
Vorlage zum Informantenschutz vorzu-
legen.Doch seither sind zweimalRegie-
rungsvorschläge im Nationalrat abge-
stürzt, zuletzt imJuni diesesJahres. Der
Linken ging der jüngsteVorschlag zu we-
nig weit; sie will stärkerenKündigungs-
schutz und tiefere Meldehürden.Viele
Bürgerliche empfanden denVorschlag
als zukompliziert und wenig nutzbrin-
gend. Einzig CVP und BDP hatten sich
dafür ausgesprochen. ImWesentlichen
sollte dieVorlage laut Bundesrat die gel-
tendeRechtsprechung im Gesetz ver-
ankern: Demnach sind Meldungen über
Unregelmässigkeiten zuerst intern zu
machen, und erst wenn dies nicht wirkt,
wäre eine Meldung an eine externe Be-
hörde und – im äusserstenFall – an die
Öffentlichkeit zulässig.

Die Rechtskommission des Stände-
rats hat sich dieseWoche für denVor-
schlag des Bundesrats von 2018 ausge-
sprochen und damit das Gesetzesprojekt
noch am Leben erhalten.Aus Sicht von
Befürwortern bringt dieVorlage mehr
Rechtssicherheit. Dennoch dürfte es
das Projekt imParlament schwerhaben.
Ohne Unterstützung der Linken wird
die Vorlage wohl scheitern.
Im Unterschied zu den früherenKon-
troversen umBankgeheimnis undFir-
mensteuern ist in Sachen Informanten-
schutz international nicht von «schwar-
zen Listen» und Sanktionen dieRede.
Doches gibt auch beim Informanten-
schutz eine globaleBasis: die1997 ver-
abschiedete OECD-Konvention zur Be-
kämpfung derKorruption sowie ergän-
zende Dokumente.Die 36 OECD-Mit-
glieder und acht weitereLänder haben
die Konvention akzeptiert.
Den Informantenschutz erwähnen
die ergänzenden Empfehlungen von


  1. Demnach sollen «angemessene
    Massnahmen» den Schutz von Hinweis-
    gebern sicherstellen.Was «angemessen»


ist ,blieb offen. Die Ansichten dazu ent-
wickeln sich über die Zeit, und dies oft
in RichtungVerschärfung derRegeln.

Regelmässige Prüfberichte


Der OECD-Prozess setzt auf «sozia-
len Druck». Es gibtregelmässige Prüf-
berichte mit Mängellisten über die Mit-
gliedländer. Nützt der Pranger nichts,
ist die nächste Stufe laut Bund ein deut-
licher Brief an die zuständige Ministerin.
Dies wäre imFall Schweiz zu erwarten,
wenn die diskutierte Gesetzesvorlage
im Parlament abstürzt und die Schweiz
bei der nächsten OECD-Überprüfung
im Juni 2020 mit leeren Händen dasteht.
Die Schweiz magdann auch dieAuflage
erhalten,innertJahresfrist erneut zu be-
richten.Eine weitere Stufe wäre der Be-
such einer OECD-Delegation zwecks
Deponierung von ein paar ernstenWor-
ten direkt bei Entscheidungsträgern in
der Schweiz.
All dies klingt nicht schlimm, wenn
auch eher mühsam und etwas peinlich.
Immerhin steht die Schweizinsgesamt

in SachenKorruption im internationa-
len Vergleich nicht schlecht da. Der In-
formantenschutz ist nur eines von vie-
len Elementen zurKorruptionsbekämp-
fung .Der jüngste OECD-Prüfbericht
zur Schweiz enthält auch positive
Punkte. Und gemäss Index der Orga-
nisationTransparency International für
2018 zur wahrgenommenen Behörden-
korruption steht die Schweiz unter 180
Staaten am drittbesten da.
Trotzdem wird die Schweiz erfah-
rungsgemäss wohl früher oder später
auch in Sachen Informantenschutz auf
die OECD-Empfehlungen eingehen
wollen. Der jüngsteLänderbericht lässt
vermuten,dass die OECD-Kritik imFall
ein er I nkraftsetzung der Bundesratsvor-
lage leiser würde, aber kaum ganz ver-
stummt.Auch im Inland wären wohl
bald wiederForderun gen nach einer
Verschärfung auf der Agenda. Diese
Aussicht mag manche Bürgerliche be-
unruhigen. Und sie mag für Linke ein
Grund sein, sich im Sinn einer Salami-
taktik vielleicht doch noch für den Bun-
desratsvorschlag zu erwärmen.
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