Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

18 ZÜRICH UNDREGION Freitag, 1. November 2019


OBERGERICHT


Herr Tur Tur soll einem Jungen helfen


Richter berufen sichin Besuchsrechtsstreit auf ein Kinderbuch, umein monströses Vaterbild zu korrigieren


ALOIS FEUSI


Der liebenswürdige, einfühlsame und
hilfsbereite HerrTur Tur ist ein armer
Tropf. Einsam haust er in derWüste am
Ende derWelt. Dabei ist er doch ein ge-
selliger Bursche und liebt Besuch.Aber
wer ihn von fern erblickt, nimmt ihn
als furchteinflössenden Giganten wahr.
Nur wer den Muthat – und den haben
die wenigsten –, trotzdem auf ihn zuzu-
gehen, wird gewahr, dass der imponie-
rende HerrTurTur ein Scheinrieseist.
Mit abnehmender Distanz zumWüs-
tenfahrer schrumpft er nämlich,und
schliesslich steht der Besucher von
einem normal grossen, ganz und gar
nicht einschüchternden Mann.


Zahllose Elternkennen HerrnTurTur
vom Erzählen von Gutenachtgeschich-
ten oder aus der eigenen Kindheit,als die
legendären Marionetten derAugsbur-
ger Puppenkiste über dieFernsehbild-
schirme flimmerten.Das gilt offensicht-
lich auch für das eine oder andere Mit-
glied der II. Zivilkammer des Zürcher
Obergerichts. Diese beruft sich nämlich
in einem unlängst veröffentlichtenschrift-
lichen Urteil auf denTur-Tur-Effekt.

Mehr alsblos s der Erzeuger


HerrTurTur steht hier für einen Mann,
der in einen jahrelangen erbitterten
Streit um seinRecht aufKontakt zu sei-
nem Sohn verwickelt ist. In den bald drei

Jahren, die er nun vomVater ferngehal-
ten wurde, hatte der offenbar von der
Mutter stark beeinflusste Bub eine hef-
tige Abneigung und auch eine grosse
Furcht vor dem leiblichenVater ent-
wickelt.Je weiter der Mann im über-
tragenen Sinn von dem Kind weg war,
desto panischerreagierte dieses auf die
Aussicht zu einemTreffen.
Der Vater war weder mit der Mutter
seines inzwischen elfjährigen Sohnes
verheiratet, noch hatte er je mit ihr zu-
sammengelebt. Die beiden hatten auch
keinen gemeinsamenFreundeskreis und
verkehrten bloss auf der Eltern-Ebene
miteinander. Denn der Mann ist schwul
und ein Aktivist für dieRechte Homo-
sexueller.

Aber er wollte ein richtigerVater
sein und nicht bloss der Erzeuger des
Sohnes. Stets hielt er gutenKontakt zu
dem Buben.Er betreute ihn seit der Ge-
burt stunden- und tageweise. Seine Mut-
ter übernahm liebend gern die Gross-
mutterrolle, und sein Bruder wurde der
Patenonkel des Knaben. Eine verbind-
licheRegelung derKontakte zum Kind
hatte der leiblicheVater aber nie mit der
Mutter getroffen.
Dies stellte sich achtJahre nach der
Geburt des Kindes als folgenschweres
Versäumnis heraus. Ende Dezember
2016 brach die Mutter denKontakt zum
Vater abrupt ab und wehrte sich fortan
gegen jeglicheTreffen des Mannesmit
dem Buben.

Angeblicher Kindsmissbrauch


Am 4.Januar 2017 erst attete dieFrau
eine Anzeige wegen sexueller Handlun-
gen mit Kindern.MitteJanuar stellte der
Vater,derzujenemZeitpunktnochnichts
von den Beschuldigungender Mutter
wusste, bei der Kinder- und Erwachse-
nenschutzbehörde (Kesb) Hinwil einen
Antrag auf gemeinsamesSorgerecht und
die Regelung des Besuchsrechts.
In einemTelefongespräch Anfang
März eröffnete ihm der zuständigeVer-
fahrensleiter derKesb, dass bei derPoli-
zei eine Anzeige gegen ihn eingereicht
worden sei und dass er seinen Sohn
ein stweilen nicht mehr sehen dürfe.
Über die Art der gegen ihn erhobenen
Vorwürfe gab der Behördenvertreter
keine Auskunft.
Die Anschuldigungen liessen sich
in derFolge nicht belegen, auch nicht
durch belastendeAussagen des offenbar
von der Mutter zum Lügen angestifteten
Buben.Es blieb einzig derVorwurf, dass
der Vater dem Kind Alkohol zumKos-
ten gegeben hatte. m September 20 17
hob dieKesb den vorsorglichen Entzug
des Besuchs undKontaktrechts wieder
auf und ordnete ein sogenanntes be-
gleitetes Besuchsrecht an. Die Beistän-
din des Kindes sollte dieseKontakte in
einem sogenannten Besuchstreff organi-
sieren und wenn nötig zwischen den bei-
den Elternteilen vermitteln.

Dagegen wehrte sich die Mutter beim
Bezirksrat Hinwil. Nach langem Hin
und Her, ob dem verängstigten Kind der
Kontakt zum dämonisiertenVater zu-
gemutet werdenkönne oder nicht, hob
der Bezirksrat die von derKesb ange-
ordneten begleiteten Besuchskontakte
schliesslich auf. Stattdessen wurden zwei
Erinnerungskontakte imJahr 2019 bei
der Psychologin angeordnet, die den
Knaben während desVerfahrens begut-
achtet hatte. DieseKontaktesollten des-
sen gänzliche Entfremdung vomVater
ve rhindern.
Die Mutter blieb unnachgiebig und
zog denFall ans Obergericht weiter.
Dieses bestätigte nun den Entscheid
des Bezirksrats und ergänzte die beiden
für dasJahr 2019 angeordneten Erinne-
rungskontakte durch vier weitereTref-
fen imkommendenJahr.
Es gehe hier nicht um eine wei-
tere Traumatisierung des Kindes,wie
dies die Mutter behaupte, schreibt das
Obergericht in seinem Urteil.«Viel-
mehr geht es darum, das äusserst ne-
gative und monströseVaterbild zukor-
rigieren»: ein Bild wiejene s, das sich
der kleine Jim Knopf anfangs vom
ScheinriesenTur Turinder Wüste am
Ende derWelt gemacht hatte und das
sich dann bei der Annäherung an das
vermeintliche Monster sehr schnell
änderte.

Notfallsmit der Polizei


SeineAufgabe sei es nicht, die Schuld-
frage an der gegenwärtigen Situation
eines der beiden Elternteile zu klären,
schreibt das Gericht weiter.Vielmehr
gelte es, die schädlichenFolgen des seit
mehr als zweieinhalbJahren andauern-
den Kontaktabbruchs zu mildern und
das Zerrbild, das der Sohn inzwischen
vom Vater habe, an derRealität zu mes-
sen und zukorrigieren.Falls sich die
Mutter weiterhin gegen diese Erinne-
rungstreffen sperren sollte,ist die Kan-
tonspolizei ermächtigt, das Kind abzu-
holen und zu denTreffen in der Praxis
der Psychologin zu bringen.

Urteil PQ190029 vom 2. 9. 2019.

Die Mutter vermittelt ihrem Sohn offenbar ein Zerrbild vomVater –und lehntTreffen kategorischab. SELINA HABERLAND / NZZ


Islamisten aus Haft entlassen


Fünf vonelf bei Grossrazzia Aufgegriffenensindminderjährig


scf. ·Am Dienstag ist es in der Schweiz
zur grösstenRazzia im islamistischen
Milieu gekommen.Rund hundertPoli-
zisten durchsuchten elfWohnungen in
den Kantonen Zürich,Bern und Schaff-
hausen, gegen elf Personen wird er-
mittelt. Ihnen allen wird vorgewor-
fen, gegen das IS-Verbot verstossen
zu haben.
Unter den Beschuldigten befinden
sich vierJugendliche aus demRaum
Winterthur. Nach 48 Stunden in Ge-
wahrsam wurden sie nun wieder auf
freien Fuss gesetzt, wie dieJugend-
anwaltschaftWinterthur auf Anfrage
mitteilt.Jedoch müssen sieAuflagen ein-
halten. GemässJugendstrafrecht zählen
unter anderemKontakt- oderRayon-
verbote zu solchen Massnahmen.
Auch ein 17-Jähriger, gegen den
die Jugendanwaltschaft Bern ermittelt,
wurde mittlerweile aus dem Gewahrsam
entlassen – unter gleichzeitiger Anord-


nung einer vorsorglichen Schutzmass-
nahme,wie es auf Anfrage heisst.
Bereits am Dienstag verkündete die
Bundesanwaltschaft (BA), dass sie für
zweiPersonen Untersuchungshaft an-
geordnet habe. Das Zwangsmassnah-
mengericht hat die Anträge in der Zwi-
schenzeit gutgeheissen, wie dieBA auf
Anfrage mitteilt. Die vier weiteren Be-
schuldigten seien nach der Einvernahme
wieder aus demPolizeigewahrsam ent-
lassen worden.
Einer der beiden Männer, die nun in
Untersuchungshaft sitzen, ist ein bereits
verurteilter IS-Rückkehrer. Bei ihm
dürfte es sich um einen heute 21-Jähri-
gen handeln, der inWinterthur aufge-
wachsen ist. Im Dezember 2014 ist er
zusammen mit seiner Schwester nach
Syrien ins Einflussgebiet des sogenann-
ten Islamischen Staats gereist. Gut ein
Jahr daraufkehrte das Geschwisterpaar
wieder in die Schweiz zurück.DreiJahre

später machte ihnen das Bezirksgericht
Winterthur den Prozess.
Vor Gericht verweigerte der Mann
grösstenteilsdie Aussage. Einzigauf die
Frage, ob Muslime unterdrückt würden,
antwortete er: «Ja, durch denTerror der
Politiker.» Dass sich daradikale Organi-
sationenbildenwürden,seikeinWunder.
Im Februar sprachen die Richter
ihn und seine Schwester schuldig. Der
junge Mann wurde zu einer bedingten
Freiheitsstrafe von elf Monaten verur-
teilt – mit einer einjährigen Probezeit.
Zudem muss er sichregelmässig bei der
Polizei melden.
Radikalisierte Islamisten und IS-
Sympathisanten beschäftigen die Bun-
desanwaltschaft seit geraumer Zeit. Im
Bereich des jihadistisch motiviertenTer-
rorismus sind rund 70 Strafverfahren
hängig. Bis dato wurden insgesamt rund
20 rechtskräftige Strafbefehle undVer-
urteilungen erwirkt.

Aktivisten besetzen


Juchhof- Areal


«Zone für Begegnung»in Altstetten


kkl./cah.· In Zürich Altstetten haben
am Donnerstagnachmittag Aktivisten
die Gebäude desJuchhof-Areals be-
setzt. Um wie viele Besetzer es sich
handelt,war amAbend laut einer Spre-
cherin des Sozialdepartements nicht
bekannt.
In einer Mitteilung schreiben die
Aktivisten,mit ihrerAktionwollt en sie
ein e «Zone für Begegnung» schaffen:
«Dieser Ort steht für den Kampf für
die Freiheit.» Die Aktivisten sprachen
von einem derzeit «verschärften Asyl-
regime» und bezeichneten die Siedlung
auf dem Gelände als «Labor der Unter-
drückung undVersuchsfeld für das ge-
rade eröffnete Bundeslager».
In der ehemaligen Gastarbeiter-
siedlung auf demJuchhof-Areal wur-
den von der Asyl-Organisation Zürich

(AOZ) imAuftrag des Bundes seit
mehrerenJahrzehnten Asylbewerber
untergebracht. Ab demJahr 2014 be-
trieb dieAOZ dort eineAsylunterkunft
für denTestbetrieb für beschleunigte
Verfahren. Derzeit stehen die Bara-
cken jedoch leer. Die bisher dort unter-
gebrachten Asylsuchenden seien seit
Anfang September im Bundesasylzen-
trum Embrach untergebracht, schreibt
das Sozialdepartement in seiner Mittei-
lung.Am Freitag wird auf dem Zür-
cherDuttweilerareal ein Bundesasyl-
zentrumeröffnet. Dort werden vorerst
150Asylsuchende einziehen.
Wie die Sprecherin des Sozialdepar-
tements weiter mitteilte, wird dieAOZ
die Besetzung vorerst tolerieren.Infor-
mationen über das weitereVorgehen
werden amFreitag erwartet.

66.Zürcher Wein-Ausstellung


  1. Oktober bis14.November 2019,12Schif fe amBürkliplatz Zürich


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