Süddeutsche Zeitung - 08.11.2019

(lily) #1
von franziska dürmeier

U


nterhalb kahler Hügel, bedeckt von
grünbraunen Moosen, Gräsern und
Flechten, stehen acht große Käfige
in der norwegischen Tundra. In einem da-
von bewegt sich etwas. Ein Polarfuchspaar
läuft gemeinsam an den meterhohen Zäu-
nen entlang, an drapierten Schieferfelsen
und grün bemalten Tonnen vorbei, die als
Versteck dienen. Sie tragen noch ihren
braun-weißen Sommerpelz, der an man-
chen Stellen zerzaust absteht. Ihr Lauf ist
leicht, der große, bauschige Schwanz
schwingt elegant hinterher.
Der Polarfuchs ist so etwas wie ein Natio-
naltier in Norwegen, doch ist er hier und in
Schweden stark bedroht. Während es in Si-
birien, Spitzbergen, Grönland, Kanada
und Alaska noch recht viele Tiere gibt, ist
ihr Bestand auf dem skandinavischen Fest-
land so klein geworden, dass er komplett
von Erhaltungsmaßnahmen wie dieser ab-
hängig ist – und von Männern wie Arild
Landa. Der 61-Jährige mit grauem kurzen
Haar und gebräuntem Gesicht leitet das
Aufzuchtprojekt nahe der Stadt Oppdal,
südlich von Trondheim. Sein dunkelblauer
Overall und seine grauen Wanderschuhe
sind von einer hellen, erdigen Schicht über-
zogen. Der Norweger hat sich auf hochalpi-
ne Ökologie spezialisiert. Er spricht lang-
sam und wählt seine Worte mit Bedacht.
„Ein großer, dunkler Schatten hängt über
den Polarfüchsen: der Klimawandel“, sagt
der Biologe, und streift seine dicken Ar-
beitshandschuhe ab.
Im Dovrefjell-Nationalpark, der hier be-
ginnt, lebt die größte Polarfuchs-Populati-
on von Norwegen, erzählt Landa. In die-
sem Jahr gebe es allerdings wenig Nach-
wuchs. Nur 19 Welpen in der Station, im
Vorjahr seien es knapp 50 gewesen. Auch
in der Wildnis seien es sehr wenige, ein
Wurf mit zwei Welpen. „Vielleicht nehmen
sie sich ein Ruhejahr“, sagt Landa ernst.
Dann klingelt sein Telefon. Ein Mountain
Ranger ruft an, der gerade im National-
park unterwegs ist.

Ein Bericht der Weltnaturschutzunion
IUCN warnt davor, dass der Polarfuchs zu
den Tieren zählt, die am härtesten vom Kli-
mawandel betroffen sein werden. Denn
die Tiere sind mit ihrem weißen oder bläuli-
chen, dicken Winterpelz, ihrem kompak-
ten Körper mit Fettreserven, ihrer Fähig-
keit, die Stoffwechselrate zu senken, um
längere Hungerperioden zu überstehen,
ideal an die Arktis angepasst. In den Pfoten
schränken dicht stehende Venen den Wär-
meverlust ein. Im 19. Jahrhundert war die
Polarfuchspopulation in Skandinavien
noch sehr groß, es gab mehr als 10000 Tie-
re. Doch wurden sie wegen ihres Pelzes so
stark bejagt, dass sie fast ausstarben. Ob-
wohl sie seit 90 Jahren unter Schutz ste-
hen, hat sich der Bestand nie erholt. Heute
streifen durch ganz Skandinavien knapp
300 erwachsene Tiere, erzählt Landa.

Nun ziehen sich die Tundra und der Per-
mafrost infolge der fortschreitenden Erd-
erwärmung zurück. Von Süden her erobert
der verwandte Rotfuchs die Reviere der Po-
larfüchse. Im Wettstreit mit dem nur etwa
halb so großen Polarfuchs ist er im Vorteil,
sei es bei der Jagd oder beim Kampf gegen-
einander. Zudem wird der weiße Winter-
pelz den Polarfuchs wohl langfristig nicht
mehr tarnen. Zwar fügt sich sein brauner
Sommerpelz perfekt in die Tundrafarben
ein, doch schwindet der Schnee früher
oder fällt später, werden die strahlend wei-
ßen Tiere im Winter auffallen.
Dabei wird die Futtersuche schon jetzt
schwer: Die steigenden Temperaturen und
die veränderten winterlichen Bedingun-
gen wirken sich Landa zufolge auf die Le-
benszyklen der Lemminge aus, der Haupt-
nahrung des Polarfuchses. Da dessen Fort-
pflanzung wiederum eng an die Lemminge
geknüpft ist, bleibt Nachwuchs über länge-
re Perioden aus. Der Polarfuchs begnügt

sich zwar auch mit Aas. Doch das findet er
oft gerade dort, wo die nächste Gefahr lau-
ert: auf viel befahrenen Straßen. So wür-
den viele der ausgesetzten Tiere von Autos
überfahren, berichtet Landa.
Schon die Aufzucht von Polarfüchsen
ist nicht einfach. Erste Versuche in isolier-
ten Gehegen scheiterten, erst die Verle-
gung der Station in ihre natürliche Umge-
bung erzielte Erfolge. Im Norwegischen
heißt der Polarfuchs „fjellrev“, also „Berg-
fuchs“, denn sein natürliches Verbreitungs-
gebiet sind in Norwegen und Schweden die
Berge. In Oppdal werden seit 2005 jährlich
Fuchspaare aus verschiedenen Regionen
zusammengebracht, und Füchse mit blau-
em und weißem Winterpelz gemischt, um
die genetische Variation zu erhöhen. Die
Welpen werden im späten Winter ausgewil-
dert, in der Hoffnung, „dass es bald so viele
Polarfüchse in der Wildnis gibt, dass sie
sich selbst erhalten“, sagt Landa.
Um die Füchse an die Bedingungen in
der Wildnis zu gewöhnen, werden die Tie-
re an Futterstationen mit Nahrung ver-
sorgt. Die Futtertonnen haben eine Öff-
nung, die so schmal ist, dass der katzengro-
ße Polarfuchs durchpasst, der größere Rot-
fuchs nicht. In den Gehegen sind die Tiere
scheu, sie bleiben die meiste Zeit ver-
steckt. Wenn sie sich zeigen, recken sie ih-
re Schnauzen schnuppernd unter den Stei-
nen hervor, schleichen heraus, weichen
wieder schreckhaft zurück. In freier Wild-

bahn hingegen sind die Tiere erstaunlich
aktive Wanderer. Das Meereis dient ihnen
als Jagdgrund. Kürzlich wurde die inter-
kontinentale Wanderung einer jungen Po-
larfüchsin aufzeichnet. Das Tier legte auf
dem Weg von Spitzbergen nach Ellesmere
Island in Kanada innerhalb von 76 Tagen
3506 Kilometer zurück, die schnellste auf-
gezeichnete Wanderung dieser Spezies.
Das langfristige Abschmelzen des Mee-
reseises in der Arktis wird laut den For-
schern wohl künftig mehr isolierte Popula-
tionen hervorbringen, etwa in Spitzber-
gen. Solche kleinen Populationen können
durchaus von Dauer sein: In Island etwa
lebt seit der letzten Eiszeit eine stabile Po-
pulation, die sich an das Inselleben ange-
passt hat. Die Füchse dort ernähren sich
überwiegend von Seevögeln statt von Lem-
mingen, die es auf Island nicht gibt.
Die nach der Aufzucht ausgesetzten
Füchse aus Oppdal werden beobachtet,
durch Kameras an den Futterstellen, DNA-
Proben und Mikrochips in den Ohren. Dar-
aus lässt sich ihre Überlebensrate ableiten,
die Migration verfolgen, erklärt Arild Lan-
da. Am überraschendsten sei gewesen, wie
viele der ausgesetzten Füchse überlebten.
Mit durchschnittlich 60 Prozent nach dem
ersten Jahr war die Überlebensrate höher
als die der wildgeborenen, von denen nur
gut die Hälfte das erste Jahr übersteht. Da-
hinter vermutet Landa die tiermedizini-
sche Behandlung und das Aussetzen im
späten Winter, wenn die härteste Zeit des
Jahres vorüber ist.
Inzwischen sind die Tiere in mindestens
drei Bergregionen in Norwegen und Schwe-
den wieder etabliert, in denen sie zuvor
ausgestorben waren. In einem Fall konn-
ten sich die Füchse schon selbst helfen, er-
zählt Landa stolz: Ein ausgesetztes blaues
Fuchspaar sei 200 Kilometer weit gelau-
fen, bis an einen Ort in Schweden, wo es zu
jenem Zeitpunkt nur weiße Füchse gege-
ben habe und damit die genetische Variati-
on fehlte. „Die blauen Füchse haben sie
schließlich genetisch gerettet“, sagt Landa.
„Sie heißen jetzt: Blues Brothers.“

Wenn die Frau ständig nörgelt oder der
Mannimmer schimpft, ist das nicht ge-
sund. In Studien kann noch so oft behaup-
tet werden, dass Verheiratete oder dauer-
haft verpartnerte Menschen länger leben
als Singles. Das gilt aber eben nur dann,
wenn sie sich nicht ständig auf die Nerven
gehen. Wenn das Leben jedoch zur Bezie-
hungshölle wird, gehen fast alle gesund-
heitsfördernden Aspekte einer Paarbezie-
hung verloren. Während sich Beziehungs-
bücher und Forschung hauptsächlich um
die segensreiche Wirkung – oder den ver-
fluchten Alltag – von Partnerschaften küm-
mern, bleibt eine andere intensive Bin-
dung jedoch oft im Hintergrund. Dabei zei-
gen Ärzte und Psychologen aus den USA,
dass die Familie die Gesundheit stärker be-
lasten kann als der Intimpartner.


Im FachblattJournal of Family Psycholo-
gybelegt ein Team um Sarah Woods, dass
die Herkunftsfamilie, also Eltern und Ge-
schwister, anstrengender sein kann als der
Partner. Und anstrengend bedeutet eben
oft auch schädlich für die Gesundheit.
„Das emotionale Klima in der Familie hat
einen großen Einfluss auf die Gesundheit
und kann dazu beitragen, dass sich chroni-
sche Leiden entwickeln und verschlim-
mern und es beispielsweise schon in mittle-
ren Jahren zu dauerhaften Kopfschmerzen
oder gar einem Schlaganfall kommt“, sagt
Woods, die als Familienmedizinerin an der
University of Texas tätig ist. „Familiäre
Belastungen hatten in unserer Studie stär-
kere Auswirkungen als Stress mit dem
Partner.“
Die Wissenschaftler um Woods hatten
fast 3000 Erwachsene, die zumeist in
ihren Vierzigern waren, fast 20 Jahre lang


beobachtet und in regelmäßigen Abstän-
den interviewt. In dieser Zeit wurden Ge-
sundheitsdaten erhoben und dokumen-
tiert, ob und wie oft Rückenschmerzen, Ma-
genbeschwerden, Kopfweh und andere Lei-
den auftraten oder gar chronisch wurden.
Zusätzlich wurden immer wieder Fragen
zum Verhältnis innerhalb der Familie wie
auch zum Partner gestellt („Wie oft werden
Sie von Familienmitgliedern – Ihr Partner
ausgenommen – kritisiert?“, „Können Sie
sich auf Ihre Familie verlassen, wenn Sie
ein Problem haben?“).
„Nach zehn Jahren war der Gesundheits-
zustand jener Teilnehmer deutlich besser,
die von ihrer Familie unterstützt wurden“,
sagt der Psychologe Jacob Priest, der eben-
falls an der Studie beteiligt war. „Das emo-
tionale Verhältnis zum Partner spielte er-
staunlicherweise langfristig eine viel gerin-
gere Rolle.“ Als eine Erklärung für ihre Be-
funde vermuten die Forscher, dass sich ei-
ne Partnerschaft beenden lässt, wenn es
gar nicht mehr miteinander auszuhalten
ist. Von seinen Eltern oder Geschwistern
kann man sich hingegen nicht scheiden las-
sen, diese Beziehung bleibt ein Leben lang.
Ist das familiäre Klima vergiftet, hält das
Trommelfeuer aus Kritik, Vorwürfen und
Aggressionen länger an, als es ein Partner
auszuüben vermag.
Ärzte wissen schon länger, dass negati-
ve Gefühle und ständige Anwürfe zu einer
chronischen Stressreaktion und entzündli-
chen Veränderungen im Körper führen. In
der Folge verstopfen Gefäße schneller,
Knochen werden brüchiger, die Schmerz-
schwelle sinkt – alle Organe können ange-
griffen werden. „Dauerhaft schlechte Stim-
mung in der Familie schadet; gerade chro-
nische Leiden werden dann schlimmer“,
sagt Woods. „Umgekehrt ermuntere ich Pa-
tienten deshalb dazu, Familienmitglieder
in die Sprechstunde mitzunehmen, die sie
unterstützen und so zu ihrem Wohlbefin-
den beitragen.“ werner bartens

„Thomas hat eine kleine Katze. Ihr Fehl ist
weiß. Manchmal schmusst sie mit Tho-
mas. Das mak er.“ Weil Menschen aus Feh-
lern lernen, verwenden Lehrer solche ab-
sichtlich falschen Texte im Unterricht. Ihre
Schüler sollen sie korrigieren und so die
richtige Rechtschreibung lernen.
Die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen, ist
ein grundsätzliches Prinzip, das nicht nur
für Menschen gilt, sondern ebenso für vie-
le Tiere und auch für lernfähige Computer-
programme. Pädagogen wissen aus Erfah-
rung, dass Schüler am meisten lernen,
wenn man sie weder unter- noch überfor-
dert. Sind die Aufgaben zu leicht, geben sie
zwar zu hundert Prozent richtige Antwor-
ten, lernen aber nichts Neues. Sind sie zu
schwer, schalten sie frustriert ab und ler-
nen genauso wenig. Ein Team von Psycho-
logen um Robert Wilson von der University
of Arizona will jetzt herausgefunden ha-
ben, wo genau der „sweet spot“, also der op-
timale Bereich liegt. Im Wissenschaftsma-
gazinNature Communicationsstellen sie
die „85-Prozent-Regel“ auf, der zufolge
Lernen am besten funktioniert, wenn
85 Prozent der Aufgaben richtig beantwor-
tet werden können und 15 Prozent falsch.
In ihren Experimenten nutzten die Psy-
chologen lernfähige Programme als Model-
le für menschliches und tierisches Lernen.
Sie stellten die Computer vor verschiedene
Aufgaben und maßen die Geschwindigkeit
ihres Lernerfolgs. Unter anderem sollten
die Maschinen Abbildungen von Zahlen
der Kategorie „gerade“ oder „ungerade“
zuordnen oder entscheiden, ob die Ziffern
zur Gruppe „kleiner als fünf“ oder „größer
als fünf“ gehörten. Am größten war der
Lernerfolg, wenn der Computer 85 Prozent
der Aufgaben richtig lösen konnte.
Nach Ansicht von Wilson lässt sich die
85-Prozent-Regel auf menschliche Lern-
prozesse übertragen – zumindest, wenn es


um einfache Aufgaben geht, bei denen es
nur eine falsche oder eine richtige Antwort
gibt. Etwa ein Radiologe, der zu unterschei-
den lernt, ob auf einer Aufnahme ein Tu-
mor zu sehen ist oder nicht.
Dass die 85-Prozent-Regel auch für
komplexere menschliche Lernprozesse
gilt, ist aber ziemlich unwahrscheinlich,
das geben die Psychologen selbst zu.
Schließlich lernen Menschen und auch vie-
le Tiere nicht nur aus Fehlern, sondern
auch auf viele andere Arten. Indem sie an-
dere nachahmen zum Beispiel, oder indem

sie verschiedene Erfahrungen kombinie-
ren und so die Lösung für ein neues Pro-
blem finden. Lernen ist ein komplexer Vor-
gang – und eine Grundvoraussetzung für
das Überleben. Wer nur über angeborene
Verhaltensweisen verfügt und nichts dazu-
lernt, kann sich zum Beispiel nicht schnell
an Veränderungen in der Umwelt anpas-
sen und sich in vielen Situationen nicht
sinnvoll verhalten.
Trotzdem ist die Frage interessant, ob
es beim Lernen einen „sweet spot“ gibt
und wo genau dieser Punkt liegt, an dem
Motivation und Lernerfolg optimal sind.
Viele pädagogische Konzepte beruhen auf
der Annahme, dass zum Lernen eine Balan-
ce zwischen Erfolgserlebnis und Heraus-
forderung notwendig ist. Bewusst oder un-
bewusst nutzen auch Hersteller von Video-
spielen diesen Mechanismus, um ihre Kun-
den zu manipulieren: Sie lassen Spieler,
die eine bestimmte Aufgabe gelöst haben,
auf ein höheres Schwierigkeitslevel aufstei-
gen und animieren sie so dazu, immer wei-
ter zu machen. tina baier Biologe Arild Landa. FOTO: F. DÜRMEIER

Wanderer in Schnee und Eis


Der Polarfuchs ist in Skandinavien zum Symbol des Klimawandels geworden. Die Erderwärmung setzt


ihm zu, der Rotfuchs erobert sein Gebiet. Ein Besuch bei der Aufzuchtstation im Dovrefjell-Nationalpark


Wenn Familie krank macht


Streit mit Verwandten schmerzt mehr als Ehekrach


Lernen lernen


An 15 Prozent der Aufgaben zu scheitern ist optimal


Länger als jede Partnerschaft:


Von Eltern und Geschwistern kann


man sich nicht scheiden lassen


Wichtig ist die Balance
zwischen Erfolg und
Herausforderung
Die Füchse vermehrten sich erst,
als die Station in ihr
natürliches Umfeld verlegt wurde

16 HF2 (^) WISSEN Freitag, 8. November 2019, Nr. 258 DEFGH
Alle reden von Eisbären, aber auch der Polarfuchs in Skandinavien hat unter den Veränderungen seines Lebensraums zu leiden. FOTO: ARILD LANDA
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