Handelsblatt - 08.11.2019

(Barré) #1
„Synergien haben noch nie
Wachstum gebracht.“
Joe Kaeser, Vorstandschef Siemens

„Die Bundesregierung hat es
in der Hand, ob sie die Handwerks -
betriebe schwächt oder stärkt.“
Holger Schwannecke, Generalsekretär des
Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH)

I


ch habe in der „Wirtschaftswoche“ gelesen,
die Deutschen seien passionierte Pendler: Sie
wohnten gerne außerhalb und führen dann
lange Wege zum Arbeitsplatz. 59 Prozent der
Arbeitnehmer, etwa 18,4 Millionen Menschen, müss-
ten die Grenzen ihres Wohnorts verlassen, um zur
Arbeit zu kommen. Dabei würden die Pendler das
Pendeln in Wahrheit gar nicht mögen.
Einen beträchtlichen Teil des Tages entweder
beim Warten im Stau oder am Bahnhof oder einge-
zwängt zwischen anderen Menschen im Regionalver-
kehr zu verbringen mache nicht glücklich, vielleicht
sogar krank, schrieb der Autor. Das US-Forschungs-
institut Gallup habe erfragt, dass jeder dritte Pend-
ler, der täglich mehr als 90 Minuten unterwegs sei,
unter Rücken- oder Nackenschmerzen leide. Der bri-
tische Stressforscher David Lewis habe den Blut-
druck und den Puls von Pendlern gemessen – in Be-
lastungssituationen soll er stärker als bei Kampfpilo-
ten steigen. Der Schweizer Ökonom Bruno Frey habe
errechnet: Wer zur Arbeit eine Stunde benötige,
müsste über 40 Prozent mehr verdienen als jemand,
der seinen Job um die Ecke hat, um genauso glück-
lich zu sein.
Ich kann mir das gut vorstellen: Für Pendler ge-
hört es zum Alltag, die Bremslichter des Vorder-
manns zu betrachten oder ein Spielball des öffentli-
chen Nahverkehrs zu sein. Es ist eine fortwährende
Erfahrung von Ohnmacht und komplettem Ausge-
liefertsein. Das Grundgesetz verspricht einem Frei-
heit und Freizügigkeit, aber die Wirklichkeit ist an-
ders.
Man sitzt eingeklemmt zwischen Blech oder ande-
ren Körpern, und während der Puls steigt, wird der
Verkehr immer langsamer. Das ist schon frustrie-

rend. Denn Menschen, die weitab der großen Städte
wohnen, tun dies ja oft auch, um ein beschauliches
Leben zu führen – und keines mit Bluthoch-
druck. Als Pendler möchte man gerne da wohnen,
wo es schön ist, um eine wertvollere Freizeit zu ha-
ben. Aber dann muss man die ganze Zeit, die man ei-
gentlich im Grünen sein wollte, im Auto oder in der
Bahn verbringen.
Ich habe den Verdacht, dass viele Pendler sich die
Sache schönreden. Ich höre selten Beschwerden.
Stattdessen erzählen sie etwa, dass man mit dem Au-
to „ja nur eine halbe Stunde“ Weg in die Stadt habe.
Allerdings ist diese halbe Stunde Weg meist nur un-
ter Experimentalbedingungen erreichbar. Nämlich
dann, wenn die Autobahn für jeden anderen Ver-
kehr gesperrt ist, die Ampeln alle auf Grün geschal-
tet sind und Kerosin statt Benzin im Tank ist. An-
sonsten braucht man doppelt so lange.
Vielleicht hat man es ja irgendwann auch mal in
der entsprechenden Zeit geschafft – und glaubt da-
nach ganz fest daran, dass es einfach immer so wä-
re. Das ist eigentlich eine gute Sache. Normalerwei-
se bleiben ja immer die Katastrophen im Leben im
Gedächtnis. Das belastet einen dann furchtbar,
auch wenn das Leben an sich vollkommen okay ist.
Wenn man allerdings jeden Tag im verkehrsmäßi-
gen Traumazustand lebt, dann erinnert man sich of-
fenbar an das eine Mal, als der Verkehr so schön
rundlief, als die Baustelle nicht da war und die Son-
ne schien. Vielleicht lässt Pendeln an das Gute den-
ken.

Prüfers Kolumne


Immer an das Gute denken


Tillmann Prüfer
empfiehlt
Berufspendlern,
sich an die Tage zu
erinnern, an denen
der Verkehr
rundlief, keine
Baustelle da war
und die Sonne
schien.

Der Autor ist Mitglied der Chefredaktion des
„Zeit-Magazins“. Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

dpa, Thomas Dashuber für Handelsblatt, Caro / Teich


Illustration: Max Fiedler


Banken


Ein Spiel mit


dem Feuer


W


as haben die Deutsche
Bank, die Commerzbank
und die Sparkasse Ro-
tenburg-Osterholz gemeinsam? Sie
alle haben entschieden, die Negativ-
zinsen der Europäischen Zentral-
bank an bestimmte Privatkunden
weiterzugeben. Das Vorgehen ist
nachvollziehbar, schließlich müssen
die Geldhäuser selbst 0,5 Prozent
Zinsen berappen, wenn sie über-
schüssiges Geld über Nacht bei der
Notenbank parken. Populistische
Forderungen aus der Politik, Nega-
tivzinsen für Privatkunden zu ver-
bieten, sind deshalb fehl am Platz.
Denn damit würde der Staat viele
Finanzinstitute faktisch zu Verlust-
geschäften zwingen.
Die gute Nachricht für die Ver-
braucher ist, dass die meisten Ban-
ken Negativzinsen bisher nur an
Privatkunden mit sehr hohen Einla-
gen weitergeben – die Commerz-
bank spricht etwa zunächst Perso-
nen an, die mehr als eine Million
Euro auf ihrem Konto liegen haben.
Dass Otto Normalbürger mit weni-
ger als 100 000 Euro zur Kasse ge-
beten werden, ist nicht geplant.
Grundsätzlich müssen Banken bei
der Weitergabe von Negativzinsen
Fingerspitzengefühl beweisen. Für
ihre Ergebnisse sind Einlagen heute
zwar häufig eine Belastung. Für die
Liquiditätsausstattung der Institute
sind stabile Einlagen dagegen nach
wie vor von großer Bedeutung. Soll-
ten wegen der Einführung von Ne-
gativzinsen Kunden massenhaft
Geld von einer Bank abziehen, be-
käme jedes Finanzinstitut Proble-
me. In der Vergangenheit sind Ban-
ken häufig wegen Liquiditätseng-
pässen pleitegegangen und nicht
wegen zu dünner Kapitalpolster.
Die Weitergabe von Negativzinsen
ist für Banken also ein Spiel mit
dem Feuer. Die Institute versuchen
zu Recht, opportunistische Anleger
abzuwehren, die hohe Beträge ge-
zielt bei Banken parken, die keine
oder nur geringe Negativzinsen ver-
langen. Auf der anderen Seite dür-
fen die Finanzinstitute langjährigen
Kunden nicht vor den Kopf stoßen
und müssen stabile Geschäftsbezie-
hungen bewahren. Es ist zu hoffen,
dass den deutschen Banken dieser
Balanceakt gelingt.

Geldhäuser brauchen viel
Fingerspitzengefühl, wenn sie
Negativzinsen an Privatkunden
weitergeben, sagt Andreas Kröner.

Der Autor ist
Finanzkorrespondent in Frankfurt.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Unternehmen & Märkte


WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216^31

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