Matthias Streit Erfurt
D
er Weg zu Janosch
Dietrich führt durch
abgeerntete Felder
vorbei an herbstlich
bunten Bäumen. Nur
rund 80 Bewohner leben in dem
Dorf, Klein-Glien, anderthalb Zug-
und Busstunden vom Berliner
Hauptbahnhof entfernt. Dietrich hat
hier mit dem „Coconat“ eine Mi-
schung aus Coworking-Space und
Rückzugsort geschaffen. Teams von
Start-ups bis Dax-Konzernen bu-
chen sich meist wochenweise ein.
Dietrich nennt es „Workation“, Ar-
beitsurlaub. Das Publikum ist inter-
national. Zwischen den Arbeitsplät-
zen stehen Sofas, asiatische Statuen,
ein Klavier. Im „Cow-Working“-
Space gibt es Barhocker in Kuh -
lederoptik auf Kunstwiese. Im Ober-
geschoss wird geschlafen, im Som-
mer auch im Garten im Zelt. Es gibt
einen kleinen Künstlerladen, Yoga-
kurse, ein Massageangebot, eine
Sauna, Wanderwege über das
Grundstück. Hier will Dietrich, der
die meiste Zeit seines Lebens in Ber-
lin verbracht hat, seinen Gästen die
Vorzüge des Landlebens näherbrin-
gen. Er selbst wohnt im Nachbar-
dorf. Gut ein Dutzend einstiger Gäs-
te haben sich in der Gegend ange-
siedelt.
Vor Kurzem hat das Land Bran-
denburg die Region zum „Smart Vil-
lage“ auserkoren. Brandenburg er-
hofft sich Ideen, die die Menschen
aufs Land locken. Auch die Bundes-
politik dürfte sich freuen, wenn der
Plan aufgeht. In den Großstädten
fehlen Millionen Wohnungen. Die
Mieten steigen. Politiker reagieren
empört bis populistisch, weil die
Wohnkostenbelastung wächst. Da-
bei könnte die Lösung ganz einfach
sein: Auf dem Land gibt es Leer-
stand und Platz en masse, „Raum-
wohlstand“, wie es Dietrich nennt.
Seit 2010 haben sich die Kaufprei-
se von Wohnungen in einigen Metro-
polen verdoppelt. Die Zahl der Erst-
erwerber sinkt seit Jahren. Leisteten
sich 2010 noch rund 550 000 Haus-
halte ihr erstes Wohneigentum, wa-
ren es 2017 weniger als 400 000,
zeigt eine Analyse des Instituts der
deutschen Wirtschaft (IW). Während
die Bundesregierung in dieser Legis-
laturperiode 1,5 Millionen Wohnun-
gen bauen will, stehen auf dem Land
fast zwei Millionen leer. Grundstücke
auf dem Land sind günstiger als in
der Stadt. „Die Dörfer können eine
Antwort auf die überhitzten Bal-
lungszentren sein, aber dafür müs-
sen wir sie stärken“, kommentierte
Agrarministerin Julia Klöckner (CDU)
im Juli die Ergebnisse der Kommissi-
on „Gleichwertige Lebensverhältnis-
se“. Laut der Interhyp-Wohntraum-
studie möchte die Hälfte der Deut-
schen auf dem Land wohnen, nur 19
Prozent wollen in Großstädten leben.
Digitaler Anschluss
Die Realität sieht anders aus. Zwi-
schen 1995 und 2017 haben Landge-
meinden und Kleinstädte mehr Ein-
wohner verloren als gewonnen.
Mecklenburg-Vorpommern versucht
mit Busausflügen ins Grüne, eine po-
tenzielle Lehrerschaft zu gewinnen.
Sachsen geht mit einem Förderpro-
gramm in Ungarn auf die Suche nach
künftigen Landärzten. Görlitz in der
Lausitz lässt Menschen vier Wochen
lang Probe wohnen.
Dass Anspruch und Wirklichkeit
derart auseinanderklaffen, über-
rascht Tobias Koch nicht. „Die Men-
schen ziehen eben dorthin, wo es Ar-
beit gibt“, sagt der Bereichsleiter für
Region & Standort bei Prognos. Fir-
men ziehen jedoch selten um. Und
wenn doch, dann in Regionen, wo sie
Fachkräfte finden – und das sei auf
dem Land heute meist das größte
Problem. Dass Neugründungen das
Blatt wenden könnten, scheint eine
verwegene Hoffnung. Rund 16 Pro-
zent aller neu gegründeten Start-ups
kamen 2018 aus Berlin, zeigt eine
Analyse der Wirtschaftsprüfer von
KPMG. Elf Prozent entfielen auf die
Metropolregion Rhein-Ruhr. Bundes-
länder wie Thüringen, Brandenburg
oder auch das Saarland schafften es
nur knapp über jeweils ein Prozent.
Dennoch gibt es eine Reihe von Men-
schen, die aufs Land ziehen. Eine
Analyse des Thinktanks Neuland21
zeigt: Auffallend viele der neuen
Landbewohner arbeiten in Wissens-
und Kreativberufen – von Program-
mierern und Grafikdesignern über
Architekten und Journalisten bis hin
zu Sozialwissenschaftlern oder Kul-
turmanagern. Ihr Vorteil: Sie können
einen Großteil ihrer Arbeit überall er-
ledigen. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) stellte
2016 fest, dass es bei 40 Prozent der
Beschäftigten die Möglichkeit gebe,
im Home office zu arbeiten. Doch nur
zwölf Prozent der Beschäftigten nutz-
Alternative zur Metropole
Neue Landlust für
Stadtmenschen
Während der Druck auf die Wohnmärkte der Großstädte zunimmt,
herrscht auf dem Land Leerstand. Warum es so schwer ist, dieses
Potenzial zu nutzen, und welche Ideen heute schon umgesetzt werden.
Digitalarbeit im Grü-
nen: Im Coconat, das
für „Community and
concentrated work in
nature“ steht, treffen
sich Großstadtmüde
zum Arbeitsurlaub.
Auf dem Foto in der
Mitte unten ist das
Gründerteam zu se-
hen: Janosch Dietrich,
Julianne Becker,
Philipp Hentschel und
Iris Wolfer (von links).
Coconat, Tilman Vogler (5)
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(^38) WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216
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