Handelsblatt - 08.11.2019

(Barré) #1

ten dies. „Einerseits bleibt die Frage,
ob Deutschland jemals von der Prä-
senzkultur wegkommt. Andererseits
brauchen wir einfach eine bessere di-
gitale Infrastruktur“, glaubt Silvia
Hennig, Gründerin von Neuland21.
„Der Anschluss an die digitale Auto-
bahn sollte heute so selbstverständ-
lich sein wie der Anschluss an das
Strom- und Wassernetz.“
Eigentlich sollten schon Ende 2018
alle Haushalte Zugang zu schnellem
Internet mit einer Geschwindigkeit
von mindestens 50 Megabit pro Se-
kunde (Mbit/s) haben. Tatsächlich
waren es 88 Prozent. Und der Glas -
faserausbau stockt: Erst 3,2 Prozent
der stationären Breitbandanschlüsse
in Deutschland sind laut OECD im
Juni 2018 mit einem Glasfaserkabel
verbunden gewesen. Der OECD-
Schnitt liegt bei 30 Prozent.
Auch für Dietrich vom Coconat
waren 50 Mbit eine Grundvoraus-
setzung für seine Ansiedlung in
Klein-Glien. Das Smart-Village-Pro-
jekt soll die guten Voraussetzungen
nutzen. Bislang enthält die Ideen-
sammlung über 20 Projekte, vom
Bürgerjournalismus über eine Mit-
fahrzentrale bis zur Gemeinde-App,
die Nachrichten, Veranstaltungen
oder den Abfallkalender bündelt.
Künftig sollen darüber auch öffentli-
che Dokumente wie der Führer-
schein beantragt werden können.
Wer Förderung will, muss Förder-
möglichkeiten für sein Projekt selbst
prüfen. Das Smart Village ist viel-
mehr ein Sammelbegriff.


Gemeindezentren stärken


Digitale Infrastruktur allein hilft
nicht, wenn die Verkehrs- und die
soziale Infrastruktur wegzubrechen
drohen. In den ostdeutschen Flä-
chenländern musste seit Mitte der
1990er-Jahre mehr als ein Drittel
der Grundschulen schließen. Betrof-
fen waren davon vor allem Dörfer,
in denen die Zahl der Schulanfänger
infolge von Abwanderung und Alte-
rung stark rückläufig war, heißt es
in der Studie „Urbane Dörfer“ von
Neuland21.
Bricht die Daseinsvorsorge weg,
ist die für Deutschland so typische
„polyzentrale Struktur massiv in Ge-
fahr“, sagt Reiner Nagel, Vorstands-
vorsitzender der Bundesstiftung
Baukultur. Deutschland hat im Ge-
gensatz zu beispielsweise Großbri-
tannien nicht ein Wirtschaftszen-
trum schlechthin, sondern viele
über das Land verteilte Knoten-
punkte. Nagel ist überzeugt, dass
der ländliche Raum die Großstädte
entlasten kann, sofern es Mindest-
standards sozialer Versorgung gibt.
Wichtig sei, dass es in einem Ober-
zentrum der Region Infrastruktur
vom Krankenhaus über Schulen bis
zur Kultur gebe. Gerade die Ortsker-
ne müssten gestärkt werden, um
wieder Begegnungsorte zu schaffen.
Vor allem ältere Generationen und
junge Menschen mit temporärem
oder spezifischem Wohnbedarf tref-
fen nicht auf adäquate Angebote,
heißt es im Baukulturbericht
2016/2017 von Nagels Institution.
Umso mehr seien die Gemeinden
gefragt, private Bauherren bei Pla-
nungs- und Baufragen zu beraten
oder auf kommunalen Grundstü-
cken Projekte zu initiieren, die den
lokalen Wohnungsmarkt ergänzen.
Wie so etwas aussehen kann, ist
in Brannenburg in der Nähe von Ro-
senheim zu beobachten. Dort ent-
steht das Projekt „Dahoam im Inn-


tal“. Finanziert wird es vom Inves-
tor Wolfgang Endler, umgesetzt von
Rupert Voß. Auf einer alten Kaser-
nenfläche in der 6 300-Seelen-Ge-
meinde entstehen 520 Wohnungen.
Neben Miets- und Eigentumswoh-
nungen sowie Einfamilienhäusern
entstehen ein Montessori-Kinder-
haus, ein Pflegeheim und betreutes
Wohnen für Menschen mit körperli-
chen und geistigen Beeinträchtigun-
gen. Hätten er und Endler nur Ei-
gentumswohnungen erstellt, hätten
sie viel Geld verdienen können, sagt
Voß. Der Unternehmensberater ver-
steht sich jedoch als sozialer Unter-
nehmer. Für den sozialen Wohn-
raum, der ebenfalls auf dem Gelän-
de entstehen soll, wählte er ein
40-jähriges statt des typischen
25-jährigen Fördermodells. „Ich ti-
cke einfach ein bisschen anders“,
sagt Voß über sich selbst. Das dach-
ten offenbar zunächst auch die
Brannenburger. Das Konzept mit
teils viergeschossigen Häusern stieß
in der Allgäu-Gemeinde mit ihren
pittoresken Landhöfen anfangs auf
Skepsis, berichtet Bürgermeister
Matthias Jokisch. Dass der soziale
Wohnraum in einem vierstöckigen
Gebäude untergebracht werden
soll, sei nur mit einer Stimme Mehr-
heit durch den Gemeinderat gekom-
men. Voß ist überzeugt, dass sein
Konzept den Ort lebendiger macht.
Neben den verschiedenen Wohnfor-
men gibt es unter anderem einen
großen Begegnungsplatz in der Mit-
te der Anlage, Gemeinschaftsgärten,
Grillplätze und Boccia-Bahnen. Voß,
ein ehemaliger Schreinermeister,
kann sich vorstellen, sein Konzept
auch in andere Gemeinden zu brin-
gen. Mit Investor funktioniere es
aber erst ab 500 Wohnungen.

Ankommen im Dorf
Eine gute Verkehrsanbindung, das
zeigen Brannenburg und Klein-
Glien, ist eine wichtige Grundvo-
raussetzung. „Wir haben in Umfra-
gen herausgefunden, dass viele Ber-
liner Angst haben, auf einem toten
Gleis zu landen“, sagt Dietrich vom
Coconat. Dass die zehnminütige
Busverbindung von Bad Belzig nach
Klein-Glien regelmäßig bedient
wird, macht den Umstieg offenbar
verkraftbar. „Wer in Städten soziali-
siert ist, hat das Bedürfnis, hin- und
wieder zurückzufahren, um Freun-
de zu treffen oder ins Theater zu ge-
hen“, erklärt Hennig von Neuland21.
Das größte Hindernis, dass Städter
vom Umzug aufs Land abhält, sei al-
lerdings das Sozialgefüge. Die meis-
ten Menschen scheuen sich, allein
heraus aus der Stadt zu ziehen. „Zu
wissen, nicht allein rauszuziehen,

sondern mit einer Gruppe Gleichge-
sinnter, führt dazu, dass der Gedan-
ke für viele attraktiver wird“, sagt
Hennig. Tatsächlich gebe es eine Rei-
he von Beispielen. So gibt es in Wie-
senburg etwa das Kodorf, wo 30 bis
150 Tiny Houses entstehen sollen.

Hennig rät solchen Stadt-Land-
Umzugsgemeinden, schon früh den
Kontakt zu suchen und auch Ange-
bote wie Versammlungs- und Begeg-
nungsorte für das Dorf zu schaffen.
Das stärke die Integration. So hat es
auch Dietrich gemacht. Inmitten sei-
nes Gutshofs gibt es einen großen
Platz. Hier steht eine kleine Mosterei
aus dem Dorf. Werkstätten sind ge-
plant. Und die Bewohner treffen
sich hier zum Weihnachtsmarkt.
Wo der Austausch gelingt, könn-
ten alle profitieren: die Städter von
niedrigeren Lebenskosten, Gemein-
den vom Zuzug. Bad Belzig, zu dem
Klein-Glien gehört, wurde vor weni-
gen Jahren noch ein Bevölkerungs-
schwund auf 8 500 Einwohner vo-
rausgesagt. Heute liegt die Einwoh-
nerzahl stabil bei 11 500. Und
Bürgermeister Roland Leisegang
denkt dank einer erfreulichen Ge-
burtenrate sogar über eine neue Ki-
ta nach. Vom Smart Village erhofft
er sich weiteren Schwung, bleibt
aber Realist: „Wir werden sicher
kein neues Silicon Valley.“

Immobilienmarkt: Top-Städte koppeln sich ab
Kaufpreisentwicklung bei selbst genutztem Wohneigentum

in Deutschland


Gesamt


Top-7-Städte


Deutschland


180,7


141,5


HANDELSBLATT • Index 2010 = 100; Jahr esdurchschnitte


2010 2012 2014 2016 2018
Quelle: vdp Research

180


160


140


10


100


In Gruppen


Gleich ge -


sinnter statt


allein aufs


Land zu


ziehen, macht


es für viele


attraktiver.
Silvia Hennig
Gründerin Neuland21




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WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216 Immobilien^39


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